23. Plutos [1]

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Im Anschluss an den Museumsbesuch wanderten Emma und ihre Begleiter die Champs-Elysees hinunter. Inzwischen war es dunkel geworden. Es musste bereits nach 22 Uhr sein. Um diese Uhrzeit waren kaum noch Fußgänger unterwegs und die meisten Geschäfte hatten geschlossen, sodass Emma sich ungeniert die Nase an den Schaufenstern der Luxus-Boutiquen plattdrücken konnte. Hugo Boss, Gucci, Dolce & Gabbana, Givenchy, Diane von Furstenberg, Valentino, Kenzo, Karl Lagerfeld, Fendi, Versace - und noch zahlreiche weitere Läden, die sich auf einer Handvoll Straßen die Klinke in die Hand gaben. Haute Couture-Träume in Satin, Spitze, Chiffon und Kaschmir. Traumhafte Handtaschen und Schuhe, erlesener Schmuck, ausgefallene Parfümflakons und Accessoires. Emma konnte sich an dem ganzen Luxus gar nicht sattsehen.

»Wie weit ist es noch?«, hörte sie Derrick fragen und löste sich vom Schaufenster einer Boutique, die sich auf hochhackige Schuhe spezialisiert hatte. Dabei bemerkte sie, dass Kilian neben ihr stand und die High Heels mit einem Gesichtsausdruck musterte, als könnte er sich nicht einmal vorstellen, wozu diese Schuhe gut sein konnten. Seine Schwester musste da ganz anderer Meinung sein. Sie bewegte sich jedenfalls so gekonnt auf ihren Stilettos, dass man sie für ein professionelles Model halten konnte.

»Nicht mehr weit«, antwortete Laurent. Er hatte den Kopf zwischen die Schultern gezogen und die Hände in den Jackentaschen vergraben. Mit jeder verstreichenden Minute wurde er stiller, fast so, als wüsste er ganz genau, was ihnen bevorstand.



*



Wenig später erreichten sie ihr Ziel. Sehr zu Emmas Überraschung handelte es sich um eine weitere Nobelboutique. Das Schaufenster des Geschäfts wurde von einem goldenen Rahmen eingefasst. An den Eckpunkten des Rahmens saßen kleine, ebenfalls vergoldete Engel. Im ersten Moment erinnerten sie Emma an klassische Weihnachtsengel, die man zu dieser Jahreszeit an jeder Ecke finden konnte, doch dann fiel ihr der boshafte Ausdruck auf den pausbäckigen Gesichtern auf. Die Engel sahen nicht aus, als wollten sie die Geburt Jesu Christi lobpreisen, sondern eher, als wollten sie den nächstbesten Spaziergänger mit ihren feisten kleinen Händen erwürgen.

»Was siehst du?«, fragte Laurent und deutete mit einem Kopfnicken auf das Innere des Schaufensters.

Emma löste sich vom Anblick der Engel. Die Auslage im Schaufenster war nur sehr zurückhaltend dekoriert, wie es bei den meisten Luxus-Boutiquen der Fall war. Eine kopflose Schaufensterpuppe präsentierte ein Kleid, das Emma bekannt vorkam. Eine umwerfende Kreation aus weißer Seide und Pailletten, die im Licht der Straßenlaternen glitzerten wie frisch gefallener Schnee. Sie hatte genau so ein Hochzeitskleid schon einmal gesehen - und zwar erst vor einigen Monaten. In einem Katalog, den ihre Chefin von den Messen und Modeschauen, die sie regelmäßig besuchte, mitgebracht hatte. Es war Liebe auf den ersten Blick gewesen. Emma hatte sofort gewusst, dass sie dieses Kleid tragen wollte, wenn sie jemals auf die Idee käme, zu heiraten. Dieses Kleid und kein anderes.

»Ich sehe ein Kleid.«

»Was für ein Kleid?«, fragte Laurent.

Emma warf ihm einen irritierten Blick zu. »Ein Hochzeitskleid. Was denn sonst?«

Laurent presste die Lippen aufeinander. »Ich sehe den Schlüssel zu einem Haus. Oder vielmehr: den Schlüssel zu einem Gefängnis im Keller dieses Hauses.« Er hob den Kopf und starrte seinem Abbild, das sich in der Scheibe spiegelte, direkt in die Augen. »Aber ich habe keinen Bedarf mehr für diesen Schlüssel.«

Emma blickte sich verwundert um. »Was ... was passiert hier?«

»Ich sehe ein Heilmittel«, sagte Derrick und senkte rasch den Kopf, als könnte er den Anblick seines Spiegelbilds nicht ertragen. »Ein Heilmittel für meinen Vater.«

Morgenwind - die fliegende Stadt [Buch 1]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt