Ruhe in Frieden

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Wo bin ich hier? Ich sehe mich um, aber da ist nichts. Überall nur weiß. Ich schwebe in einem weißen Nichts. Kurz verfalle ich in Panik, aber dann bemerke ich, dass ich dieses Weiß genieße. Es ist so schön ruhig. Meine Augen müssen nicht so viel erfassen, meine Ohren summen einmal nicht vor all den Geräuschen, die sonst die ganze Zeit da sind. Meine Nase muss nichts riechen, meine Haut muss nichts fühlen außer der Weichheit, die dieses Weiß ausstrahlt. In meinem Herzen herrscht Frieden. Meine Gedanken kommen zur Ruhe. Bin ich tot? Bin ich im Himmel? Oder bin ich nur im Koma? Wieso bin ich überhaupt hier? Kaum habe ich das gedacht, beginnt das Weiß zu verschwimmen, und ich sehe die Umrisse von irgendetwas, verschwommene Konturen. Nein, mein Weiß! Mein schönes, friedliches Weiß! Ich versuche mit aller Macht, das Weiß zu behalten, aber es geht nicht. Meine Ohren hören wieder, ein piepen, Geräusche, Stimmen, mehrere Personen atmen, bewegen sich, Kleider rascheln, Stimmen. Kratzige Kleider, meine Haut beschwert sich, meine Augenlider sind bleischwer und mein Herz füllt sich mit Kummer, meine Nase riecht Krankenhaus und ich bekomme Panik. Große, große, unheimliche Panik. Ich zwinge meine Augen auf, sehe Kabel, spüre etwas an meiner Nase, das da nicht hingehört und Nadeln in meinen Armen. Adrenalin durchschießt mich, mit einem Mal bin ich hellwach und voll da, das Weiß ist längst vergessen. Innerhalb weniger Sekunden habe ich mir das Teil aus der Nase gerissen und schon zwei von drei Nadeln draußen, genau wie ich den Clip am Finger abschüttle, bevor überhaupt irgendjemand merkt, dass ich schon wach bin. Überall piept es, es ist so laut.... Ich fange an zu schluchzen während ich verzweifelt versuche, all die Kabel abzumachen. „Macht sie ab!" „Machen Sie sie ab!" „Die brauchst du..." weiter kommt der Arzt nicht. „Ich will sie nicht haben, machen Sie sie ab!" Irgendetwas piekst, dann werde ich müde und kann mich nicht groß wehren. „Machen Sie sie ab!" bettle ich. Sie tun genau das Gegenteil. Ich krampfe mich schluchzend zusammen und drehe mich weg, will nichts mehr sehen. Und blicke in die Gesichter der Menschen, die ich am wenigsten erwartet hätte. Ihre Augen sind schreckgeweitet und sie starren mich an, als wäre ich verrückt. Bin ich vielleicht auch. Mein Kopf tut weh. Ich starre die beiden trotzig an. „Sagt ihnen, sie sollen sie abmachen." Ich ziehe die Nase hoch. „Lin, das geht nicht, sie helfen dir, wirklich. Du bekommst sie ab, versprochen." Lin? Niemals haben sie mich Lin genannt. „Ich finde euch alle echt unsympathisch. "Meine ich. Mir ist irgendwo unterbewusst klar, dass ich mich wie ein Kleinkind aufführe, aber das ist egal. Irgendetwas Schlimmes ist passiert, und ich will mich damit nicht auseinandersetzen müssen. Jetzt nicht. Eigentlich nie. Niemand geht auf meine Bemerkung ein. „Wie geht es dir, Lindsay?" fragt einer der Ärzte. „Mit Ihnen rede ich nicht." Meine ich schmollend. Der Arzt seufzt. „Sie sind nicht grade sehr kinderfreundlich. Sie sollten sich einen neuen Beruf suchen." Blubbere ich weiter. Marlon sieht mich endlich direkt an. „Deine Augen sind unglaublich. So schön blau..." sage ich. Irgendwie ist die Schranke zwischen Gehirn und Mund nicht ganz da. Marlon achtet gar nicht darauf. „Hast du Schmerzen, Lin?" „Das interessiert dich doch gar nicht." „Lin, wenn du Schmerzen hast, können sie machen, dass es aufhört." Sagt Alexa. „Über diese Kabel. Ich will diese Kabel nicht." „Lindsay." Sagt Marlon. Mehr nicht. Ich seufze leise. „Mein Kopf tut weh, aber es ist nich so schlimm..." Der Arzt macht irgendwas, und kurz darauf wird es besser, dann geht er. „Lin.. Erinnerst du dich, was passiert ist? Warum du hier bist?" fragt Marlon mich. Die ganze Zeit sieht er mich an. „Nö." Ich ziehe das Wort in die Länge wie Kaugummi. „Will ich auch nich." Meine ich schließlich. Alexa lenkt das Thema schnell weg. „Du hast Blumen bekommen." Sagt sie leise. Ich drehe meinen Kopf ein wenig und sehe eine riesige Vase mit einem wirklich gigantischen Blumenstrauß. „Von wem sind die?" frage ich verwundert. „Die Klasse hat gesammelt." Meint Marlon. „Oh." Ich sehe mir die Karte daneben an. Sie ist schlicht, aber schön. „Gute Besserung" steht dort. „Danke." Dann fällt mir etwas auf. „Ihr seht schlecht aus. Geht nach Hause und lasst mich in Ruhe. Ich will zurück in mein Weiß, und ihr habt mich aufgeweckt." Sage ich und schließe die Augen. Kurz bevor ich in den Schlaf gleite höre ich Marlon seufzen. Sie ist noch nicht bereit, es zu verarbeiten. Lasst sie schlafen. Wer hat das gesagt? Aber die Konturen verblassen schon und ich bin wieder im Weiß. Dort bleibe ich wieder eine ganze Weile, genieße den Frieden, aber dann werde ich müde. Mein wunderbares Weiß. Dann schlafe ich ein.

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