Aufgelöst lege ich mein Telefon beiseite und setze mich kurz hin. Meine Gefühle sind ein einziges großes Chaos, doch schnell tritt nur eine der vielen Emotionen hervor: Wut. Ich greife den ersten Gegenstand, den ich finde und werfe den Hotelwecker an die Wand. Ich schaue zu, wie er in hunderte von Teilen zerbricht. Ich laufe nervös und aufgebracht zugleich durch den Raum und versuche zu verarbeiten, was gerade passiert ist. Was sind das bitte für Möglichkeiten?! Nichts davon kommt infrage und erst recht kein Selbstmord! Wenn ich zur Polizei gehe, ist mein Leben so wie ich es kenne vorbei. Ich werde alles verlieren, was ich mir aufgebaut habe und werde irgendwo im Gefängnis als Frauenmörder versauern. Wenn ich nicht zur Polizei gehen sollte, dann wird mein Peiniger dies für mich erledigen und das wird mich in den Augen der Polizei nur noch schuldiger wirken lassen. Was soll ich nur tun?
Würde ich es schaffen, die Beamten davon zu überzeugen, dass ich unschuldig bin? Dass ich Chloe nicht umgebracht habe? Ich kann mich nicht erinnern, sie jemals zuvor gesehen, geschweige denn sie verletzt oder gar getötet zu haben. Letzten Sommer war eine sehr schwierige Zeit für mich, da ich wöchentlich unter Blackouts gelitten habe. Nie, wirklich nie, konnte ich mich auch nur an eine winzige Kleinigkeit erinnern und das macht mich noch heute sehr nervös. Es ist einfach frustrierend. Wer weiß, vielleicht habe ich es ja doch getan? Ich war dazu fähig den Mord zu vertuschen und das, als ich im Vollbesitz meiner geistigen Fähigkeiten war. Also vielleicht bin ich auch dazu fähig, eine Frau in meinem Bett zu ermorden und dann alles zu vergessen. Wie soll ich jemanden davon überzeugen können, die Tat nicht begangen zu haben, wenn ich nicht mal selbst daran glaube?
So komme ich zu keinem Entschluss. Ich schnappe mir meinen Geldbeutel, schlüpfe in meine bequemsten Schuhe und eine Lederjacke und verlasse das Zimmer. Vor dem Hotel angekommen atme ich erst einmal tief ein, um mich etwas zu beruhigen. Ohne zu wissen, wohin es geht, tragen mich meine Füße immer weiter. Ich achte weder auf meinen Weg, noch auf die Umgebung. Erst als ich in eine zerbrochene Glasflasche trete, mache ich halt. Direkt vor einer verlassen aussehenden Bar komme ich zum Stehen.
"Wenn ich schon mal hier bin, kann ich auch gleich ein kühles Bier trinken.", sage ich leise und betrete die schummrige Stube. Wenige Gäste sitzen an den abgeschrammten Tischen und würdigen mich keines Blickes. Ich setze mich an die Bar und gebe dem Barkeeper ein Zeichen, dass ich bestellen möchte. "Was kann ich dir bringen?", fragt er mich genervt, als er vor mir stehen bleibt.
"Ein Helles bitte.", entgegne ich ebenfalls mies gelaunt. Wie kann man nur so unfreundlich zu einem Fremden sein, selbst wenn man einen neuen Gast bedienen muss? Entgeistert schüttel ich meinen Kopf. Die Luft ist stickig, die Stimmung gereizt. Ich hänge meine Jacke an einen Haken an der Wand und mache es mir auf dem hohen Hocker bequem. Der Mann kommt zurück und stellt das Getränk vor mir ab. Erleichtert nehme ich einen großen Schluck und lasse die Flüssigkeit meine Kehle hinunter fließen. Es tut wahnsinnig gut. Ich betrachte die Leute um mich herum und stelle fest, dass ich niemanden kenne. Obwohl, der Mann hinter der Bar kommt mir bekannt vor, aber woher kenne ich ihn? Ich schiebe den Gedanken beiseite und trinke eilig mein Bier aus. Diesen Laden möchte ich so schnell wie möglich wieder verlassen. Die Leute hier sind nicht ganz der Umgang, den ich normalerweise pflege.
Zurück an der kühlen Abendluft laufe ich nun zielsicher in Richtung Hotel, da meine Schicht bald beginnt und ich mich vorher unter der Dusche erfrischen möchte. Als ich gerade über die Straße laufen möchte, vibriert mein Handy und teilt mir mit, dass eine Nachricht eingegangen ist. Verwundert hole ich es aus meiner Hosentasche und entsperren den Display. Wer schreibt mir denn noch um diese Uhrzeit? Eine SMS von einer unbekannten Nummer blinkt auf der Startseite auf. Ich habe diese Nummer schon einmal gesehen, weiß aber nicht mehr wo. Gespannt klicke ich die SMS an, es ist ein Video. Unsicher schaue ich mich um, denn ich möchte keine ungebetenen Zuschauer. Wer weiß, was in diesem Video zu sehen ist. Ich drücke auf Play und runzle meine Stirn - bald werden sich diese Falten noch in mein Gesicht einmeißeln, so oft habe ich in letzter Zeit diesen Blick gehabt. Auf dem kleinen Display ist die Bar zu sehen, in welcher ich vor wenigen Minuten noch gesessen war. Es ist ein Video von einer Überwachungskamera, zumindest sieht es von dieser Perspektive so aus. Ich beuge mich näher zu meinem Handy herunter, um die Handlung genauer erkennen zu können.
Ist das...nein das kann nicht sein. Bin das ich? Und Chloe?
Mein Herz rutscht mir fast in die Hose. Schnell stoppe ich die Aufnahme und versuche das Bild größer zu ziehen, um mir die Gesichter besser ansehen zu können.
Tatsächlich, ich sitze neben Chloe am Tresen und wir unterhalten uns angeregt. Leider gibt es keinen Ton und ich kann nur anhand der Mimik und Gestik ausmachen, dass wir uns gut verstehen. Es geht nur wenige Sekunden lang, doch diese reichen völlig aus. Rechts unten im Bild ist das Datum und die Uhrzeit zu sehen. Es ist genau der Tag, an dem sie tot bei mir lag und ich mich anschließend an nichts erinnern konnte. Selbst jetzt kommen keine Erinnerungen hoch, doch mir wird immer klarer, dass ich es tatsächlich gewesen sein muss. Ich weiß nicht was ich denken soll, ich bin zu sehr von mir selbst schockiert. War ich es wirklich? Und da ist er wieder, der Mann an der Bar. Er hat also schon damals dort gearbeitet. Wieder beschleicht mich dieses seltsame Gefühl. Ich kenne ihn! Doch woher? Ich forsche in den hintersten Ecken meines Gehirns und finde etwas, etwas sehr wichtiges. Ich weiß es. Das ist er, das ist Finn! Chloes Bruder und der Mann, der vor etwa einem Jahr ein Bewerbungsgespräch im Hotel hatte. Ich musste ihm damals eine Absage geben und er sah dabei nicht sehr erfreut aus. Möglicherweise ist er es, der mir diese Fotos und Briefe geschickt hat?
Erneut schaue ich mich um und checke meine Umgebung. Nirgends ist jemand zu sehen und das ist auch gut so. Ich möchte alleine sein, am liebsten im Erdboden versinken und nie wieder auftauchen. Ich gehe noch einmal die Möglichkeiten durch, welche mir mein Erpresser gegeben hat.
24 Stunden sind eine lange Zeit und doch scheint es nicht genug zu sein, um solch eine Entscheidung zu treffen. Ich finde mich an einer Brücke wieder und bleibe kurz stehen, um mich umzusehen. Die Sicht, die sich mir bietet, ist einfach unglaublich. Die Stadt liegt offen vor mir und das Spiel der Lichter ergibt ein atemberaubendes Bild. Mein Blick gleitet nach unten in die Tiefe. Das wilde Wasser des Flusses spiegelt das Mondlicht wieder. Es ist wunderschön und die Nacht scheint friedlich, wäre da nicht die Entscheidung, welche auf meinen Schultern lastet. Die letzten Tage schwirren mir durch den Kopf und vernebeln meine Sinne. Die vielen Bilder, der Zeitungsartikel, das Video, das Blut. Das alles ist mir zu viel.
Unter mir fließt der Fluss, die Nacht ist still. Die Sterne und der Mond am Himmel spenden mir etwas Licht und auch Trost. Ich fühle mich frei. Es wäre so leicht über das Geländer zu klettern und einfach zu springen, aber will ich das denn?
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Der gespaltene Sternekoch
Mystery / ThrillerDies ist eine Kurzgeschichte im Rahmen eines Projektes von Sebastian Fitzek. #wirschreibenzuhause Gemeinsam mit einer Freundin habe ich diese Geschichte verfasst, weshalb alle Rechte bei uns beiden liegen. Sebastian Fitzek gab uns grobe Vorgaben u...