Egal wo ich hinschaue, alles ist verwüstet. Meine Decken und Kissen sind aufgerissen, überall liegen die Federn. Die Nachtkästen sind samt Leselampen umgeschmissen und zertrümmert. Doch was mich am meisten aus der Bahn wirft, ist das Blut an den Wänden und auf den weißen Laken. Dicke Tropfen laufen die helle Tapete herunter und lassen mich zusammen zucken.
"Nein, nicht schon wieder!", sage ich leise vor mir her. Immer und immer wieder sage ich diese Worte, bis sie irgendwann als Schreie aus meinem Mund heraus kommen. Ich trete völlig aufgelöst in den Raum hinein und entdecke neue ausgedruckte Fotos, welche auf meinem Bett liegen. Sie zeigen mir genau das, an was ich seit dem Öffnen der Türe gedacht habe: Das Geschehen vom letzten Sommer. Die junge Frau mit der Schatulle ist auf den aktuellen Bildern zu sehen. Allerdings ist sie auf diesen nicht glücklich und am Lächeln. Sie liegt blutend in einem Bett, ihre Augen vor Schmerz und Schock weit aufgerissen. Ihr Blick ist leer.
Ich merke erst, dass ich weine, als mir eine einzelne Träne über meine Lippe fließt und einen salzigen Geschmack hinterlässt. Meine Knie werden weich und ich sacke zu Boden. Hart kommen sie auf dem kalten Untergrund auf. Ich kann keinen klaren Gedanken in meinem Kopf zusammenbringen und auch das Atmen fällt mir schwer. Ich stehe kurz vor einer Panikattacke. Ich muss all meine Kraft zusammen nehmen, um wieder aufzustehen und mir das Szenario erneut anzusehen. Ich greife nach den zwei Bildern und schaffe es kaum, sie zu betrachten. Dieses schmerzerfüllte Gesicht berührt mich heute genauso wie damals, als sie in meinem Bett lag. Regungslos und schon steif vom Tod.
Unter Höllenqualen beseitige ich dieses Chaos und verstaue die Bilder bei den anderen in der goldenen Schatulle. Wie viele Fotos werde ich noch bekommen? Wie soll mein Leben so weitergehen? Kennt diese Person wirklich das volle Ausmaß meiner Geheimnisse, und wenn ja woher? Was hat er oder sie vor? Wer ist diese Person, die mir solche seelischen Schmerzen zufügt? Oder ist das alles nur ein kranker Scherz? Ich kann es noch immer nicht ganz verarbeiten.
Ich muss aus dieser Wohnung raus. Raus aus diesem Leben. Raus aus dieser schrecklichen Vergangenheit.
Eilig packe ich die wichtigsten Dinge zusammen und fahre zum Hotel. Dort angekommen checke ich ein und beziehe ein sauberes Zimmer. Hier bin ich sicher, hier kommt niemand herein. Denke ich zumindest.
Am nächsten Tag verkrieche ich mich in die relative Sicherheit meiner Arbeit. Das Hotelrestaurant, in dem ich schon so lange als Chefkoch arbeite, ist fast ein zweites Zuhause für mich geworden und ich freue mich jedes mal auf eine neue Herausforderung, die mich etwas abgelenkt. Ich bin im Hinterzimmer des Restaurants, um mich umzuziehen, als ich meinen Spind öffne und erschrocken einen Schritt zurücktrete. Schon wieder finde ich einen dieser Briefe ohne Absender und Poststempel. Mein Stalker muss wohl das Schloss meines Spindes aufgeknackt haben, ohne dass es jemand bemerkt hat. Ich schaue mich um, aber da ich wie immer der erste hier bin, ist niemand da, der mich beobachten könnte. Ich öffne den Umschlag und bin erstaunt, dass statt einer neuen Notiz und Bildern, ein Zeitungsartikel darin liegt. Ich hole das Papier heraus und entfalte es, um zu sehen was sich darin verbirgt. Das erste was mir ins Auge fällt ist das Bild einer hübschen, jungen Frau mit der Überschrift "Vermisst!" darüber. Meine Hände beginnen zu zittern, als ich erkenne, dass die Frau auf dem Bild die gleiche ist, die tot in meinem Bett lag.Panik überkommt mich bei dem Gedanken, dass jemand immer noch nach ihr sucht. Verzweifelt versuche ich also das Datum der Zeitung herauszufinden und als mein Blick endlich die Zahlen findet, fühle ich mich ein bisschen besser. Die Ausgabe ist vom letzten Sommer, kurz nachdem das Ganze passiert ist. Ich versuche mich ein wenig zu beruhigen und setze mich mit der Zeitung hin, um den Artikel zu lesen. Vielleicht steht dort ja irgendeine Information, die mir weiterhelfen könnte herauszufinden, wer mir diese Nachrichten schickt. Zweimal lese ich mir den Text durch und finde nichts, das hilfreich erscheint. Das Mädchen auf dem Bild, Chloe, war gerade einmal 21 Jahre alt. Ihr Bruder, mit dem sie anscheinend zusammen gewohnt hat, hat die Vermisstenanzeige aufgegeben und die Polizei hat wohl nie herausgefunden, was wirklich passiert ist. Vielleicht ist es der Bruder, der mir diese Briefe schickt? - Nein, wie sollte er herausgefunden haben, dass sie tot in meinem Bett lag?
Ich beschließe trotzdem herauszufinden, wer dieser Bruder eigentlich ist. Ich hole mein Handy aus der Hosentasche und beginne damit, den Namen auf Facebook zu suchen. Und tatsächlich, es gibt nur eine Person, die so heißt. Sein Name ist Finn, und bei genauerem hinsehen ist die Ähnlichkeit zu seiner Schwester kaum zu übersehen. Ich weiß einfach nicht woher, aber dieser Mann kommt mir unglaublich bekannt vor. Irgendwo sind wir uns schon einmal begegnet. Allerdings kann ich außer seinem Geburtsjahr keine weiteren Informationen herausfinden, doch das hilft mir auch nicht weiter.
Gedanken über Gedanken schwirren mir durch den Kopf bis ich auf einmal wieder zurück in die Realität geworfen werde. Ich höre die Eingangstüre aufgehen und Stimmen nähern sich mir. Meine Kollegen müssen da sein, denke ich mir und versuche den Zeitungsartikel schnell in meinen Spind zu stecken und diesen zu schließen, bevor irgendjemand Fragen stellen kann. Ich lasse mir nicht anmerken, dass mich etwas beschäftigt und laufe in die Küche, um mit meiner Arbeit zu beginnen.
Als ich von meiner Schicht zurück in das Hotelzimmer komme, werfe ich meine Arbeitsklamotten in eine Ecke und mich auf das geräumige Bett. Ich will gerade das Licht ausmachen, als ich etwas auf dem Nachtkästchen entdecke. Ein dicker Briefumschlag liegt dort und wartet nur darauf, geöffnet zu werden. Ich hasse es.
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Der gespaltene Sternekoch
Misterio / SuspensoDies ist eine Kurzgeschichte im Rahmen eines Projektes von Sebastian Fitzek. #wirschreibenzuhause Gemeinsam mit einer Freundin habe ich diese Geschichte verfasst, weshalb alle Rechte bei uns beiden liegen. Sebastian Fitzek gab uns grobe Vorgaben u...