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In der Tiefe des Kindergartens klingelt ein Telefon. Das macht es häufiger und passiert so ganz nebenbei, Ronny hat sich noch nie wirklich Gedanken darüber gemacht. Heute jedoch geht ihm das Bimmeln durch Mark und Bein. Das Telefon schreit ihm etwas zu, nur versteht er nicht was. Sein Bauch tut weh. Ihm ist als hätte er viele Schaufeln von dem schmutzigen Sand gegessen, in den Ruven neulich reingepinkelt hat, weil er nicht mehr anhalten konnte.

Carmen hat ihm ein Brot geschmiert. Zwei saubere weiße Dreiecke auf rotem Plastikteller. Mortadella und Käse mit Salatblatt. Carmen weiß, was er mag. Carmen ist lieb. Sie kümmert sich.

Jetzt hat sie das Bimmeln auch gehört. Oder hat sie extra so lange gewartet? Hat sie gehofft, dass das Telefon von allein Ruhe gibt? Papa kann das gut. Es klingelt an der Tür, das Handy vibriert auf dem Tisch und trotzdem bleibt er in seinem Sessel sitzen, wie festgeklebt. Und es kann sein, dass er tatsächlich nicht aufstehen kann. Er sieht immer so müde aus. Ganz krumm ist er manchmal. Er stöhnt viel und schleicht durch die Wohnung, ohne dass Ronny weiß wohin er eigentlich will. Am Ende lässt er sich wieder in seinen Sessel fallen und trinkt Bier bis die Sonne untergeht. Nur wenn Detlef vorbeikommt, der Dünne mit dem Seitenscheitel und der kleinen Brille, dann wird Papa lebendig. Dann zieht er sich auch an. Weißes Hemd, schwarze Jacke, die glänzenden Lederstiefel, die beim Gehen so lustig knarzen. Wenn Ronny dann lacht, lacht Papa sogar zurück. Ganz kurz nur, als schäme er sich für seine Freundlichkeit.

Die durchsichtige, klebrige Schmiere, mit der Papa sein Haar formt, riecht nach Parfum. Manchmal wischt er seine Finger in Ronnys Haaren ab und wuschelt es durch bis es lustig vom Kopf absteht. Detlef grinst dann breit, man sieht seine Zahnlücke. Er ist nett und gleichzeitig grimmig. Nie kann er stillsitzen. Seine roten Hände mit den abgeknabberten Fingernägeln zittern, wenn er die Bierflasche zum Mund hebt. Als wäre da etwas Lebendiges unter der aufgeworfenen Haut. Käfer oder Würmer oder Ameisen. Detlef nennt Ronny immer »Kleiner Pimpf«. Während Papa sich anzieht, spielt er immer mit so einem Metallding herum. Immer wieder schiebt er es sich über die Finger und grinst dabei in sich hinein. Das Grinsen sieht dabei niemals nett aus.

Von der Schmiere hätte Ronny jetzt auch gerne was. Gerade hat er gepinkelt und sich dabei auf die Hausschuhe gemacht. Jetzt steht er vor dem Spiegel mit der abgebrochenen Ecke und guckt sich an. Blass wie ein Gespenst ist er. Unter seinen Augen ist die Haut dunkler. Kleine Schatten, die ihn irgendwie traurig machen. Er muss wieder an die Eidechse denken, in die er sich verwandeln könnte. Papa hat auch so Schatten unter den Augen. Doch die sind größer und stehen hervor. Kleine graue Säckchen, die noch bedrohlicher aussehen wenn er torkelnd und grölend nach Hause kommt. Das Haar wirr um den Kopf, der Hemdkragen offen. Er stinkt dann. Nach Schweiß und Pippi und Bier. Ronny will ihn dann gar nicht sehen und verschwindet immer schnell in seinem kleinen Zimmer. Doof, dass er keinen Schlüssel hat. Er würde gerne abschließen, wenn draußen das Geschrei losgeht und der Lärm von herumfliegenden Gegenständen die Wohnung erfüllt. Einmal ist Papa in sein Zimmer gestürmt. Die auffliegende Tür hat Ronny an die Heizung geschleudert und er hat für ein Minuten Schwarz gesehen. Manchmal glaubt er noch immer, das Blut an seinem Hinterkopf zu spüren. Dann fast er sich in den Nacken, um sicherzugehen, dass alles in Ordnung ist.

Wenn er hier so vor dem Spiegel steht und sich die Hände einseift und über all den dummen Kram nachdenkt, der zuhause so passiert, dann will er heute lieber hierbleiben. Bei Carmen. Er kann doch auf einer der Liegen schlafen, auf denen sie mittags sowieso immer ausruhen müssen. Carmen hat keine Kinder. Das weiß er. Nur einen Hund. Einen braunen mit langer Schnauze. Und vielleicht eine Katze. Aber die kommt alleine klar. Carmen kann bei ihm bleiben bis seine Mutter ihn abholt. Sie ist nie pünktlich. Manchmal vergisst sie die Zeit. Manchmal trifft sie jemanden auf der Straße und verquatscht sich. Ronny trocknet sich die Hände ab, wischt auch ein paarmal über die nassen Hausschuhe. Er hört Carmens Stimme. Sie ist lauter als sonst. Sie klingt nach Alarm. Carmen sagt immer wieder das gleiche.

»Oh nein! Mein Gott, nein!«, »Nein, nein, nein!«.

Jetzt hört Ronny sie schluchzen. Sein Herz zieht sich zusammen. Er denkt wieder an seinen Vater.

»Hör auf zu heulen, du Memme!«.

Das sagt er gern. Früher hat Ronny gedacht, das sei der Spitzname seiner Mutter. Memme. Memme. Das klingt wie Mama. Jetzt weiß er, dass es ein Schimpfwort ist. Memme und blaues Auge auf weißer Haut. Das gehört zusammen. Wie Ronny und kaputte Hausschuhe. Wie Carmen und leckere Brote. Wie Eichhörnchen und ihr schneller Sprung übers Kindergartendach.

Ronny folgt dem Schluchzen. Er findet Carmen im Büro. Sie drückt sich ein zerknülltes Taschentuch auf die Augen. Ihr eines Hosenbein ist hochgerutscht. Ronny sieht eine hellblaue Socke mit weißen Wölkchen und braune Haut. Er mag es, dass Carmen immer so aussieht, als käme sie gerade aus dem Urlaub. Schön knusprig braun. Ronny mag auch knuspriges Toast, schön braun. Und Hähnchen aus dem Backofen. Schön knusprig. Beides gibt es zuhause nicht. Nur bei Tante Mandy, wenn sie gute Laune hat und Papa nicht rumschreit, dass Mandy eine alte Hure ist und sich lieber nicht bei ihm blicken lassen soll. Tante Mandy ist Papas Schwester. Gerade liegt sie im Krankenhaus. Treppensturz. Ganz plötzlich. Carmen schnäuzt sich. Ihre Augen sind rot unterlaufen. Rote Flecken hat sie im Gesicht. Sie hebt Ronny auf ihren Schoß und streicht ihm über das Haar.

»Oh Ronny. Ronny, Ronny! Deine Mama kommt heute nicht.« Dann bricht sie in einen Weinkrampf aus und Ronny muss sich an der Tischkante festhalten, damit er nicht rücklings auf den Boden fällt. Carmens Gesicht besteht jetzt nur noch aus Augen. Schönen blaue Augen, aus denen Sturzbäche salzigen Wassers stürzen.

»Du kommst mit zu mir! Komm, wir packen deine Sachen!« Ronny wird heiß und kalt zugleich. Freude und Entsetzen. Beides zusammen. Er weiß nicht, was das alles zu bedeuten hat. Er spürt bloß, dass die Dinge um ihn herum sich ändern werden. Ganz grundlegend ändern werden. Carmen drückt ihn fest an sich. Er dreht den Kopf zur holzvertäfelten Decke. Dort oben ist etwas. Eine Wolke. Nein, ein Strudel. Wie in der Badewanne, wenn das Wasser abgelassen wird. Er wird größer, dann wieder kleiner. Als würde er atmen. Dann verblasst er. Und kurz bevor er ganz verschwindet, leuchtet für einen winzigen Moment Mamas Gesicht auf. Ganz schwach nur. Wie in Nebel getaucht. Sie wirkt glücklich. Als er Carmen am Ärmel packt und ihr das Ding an der Decke zeigen will, ist der Strudel verschwunden. Als wäre er niemals da gewesen. Ronny beschließt niemals irgendjemandem davon zu erzählen. Sie würden ihn für verrückt erklären.

RONNYWo Geschichten leben. Entdecke jetzt