7

27 2 0
                                    

Mama ist nicht im Kindergarten. Weder sitzt sie im Flur unter den Kleiderhaken, noch im Gruppenraum an den viel zu niedrigen Tischen. Auch in Carmens Büro ist sie nicht. Noch bevor Ronny seine Jacke ausgezogen hat, kommt Ruven ihm entgegen gerannt und bufft ihn in die Seite. »Na? Was ist denn mit deiner Mutter? Krank? Hab gehört ...«

Susanne kommt um die Ecke. Ihr Mund ist verschmiert. Erdbeermarmelade und Zwiebackkrümel. Sie springt Ruven auf den Rücken und zieht ihn auf den Boden. »Nee, die ist doch vom Balkon gefallen. Hat mein Papa erzählt!« Sie lacht und verzieht dabei das Gesicht bis es aussieht wie eine Gruselmaske.

»Hört auf mit dem Blödsinn!«. Wie aus dem Nichts ist Carmen neben ihnen aufgetaucht, zieht Ruven und Susanne auf die Füße und sieht sie streng an. Ruven hat einen Hausschuh verloren. Auf seinem gelben Pullover leuchten Marmeladenflecken. Susanne grinst noch immer, als hätte sie nicht alle Tassen im Schrank.

»Ronnys Mama geht es nicht gut. Das ist kein Grund, sich lustig zu machen. Seid nett zu Ronny. Es ist gerade nicht leicht für ihn!«

Ende der Ansprache.

Und Ende des heutigen Kindergartenbesuchs. Ronny greift nach Ruvens Hausschuh und wirft ihn so weit er kann in den langen Flur, wo er irgendwo bei Carmens Büro gegen eine Tür knallt. Susanne grabscht er ins Haar, zieht ihre Hello-Kitty-Spange heraus und zertritt sie auf dem Boden. Ihr Heulen und Kreischen ist ihm egal. Er rennt zum Ausgang, drückt sich durch hereinkommende Eltern und Kinder nach draußen und rutscht durch den hauchdünnen Spalt des sich gerade schließenden Gartentors. Carmens Fahrrad ist angeschlossen, das kann er nicht nehmen. Also rennt er los. Die Straße hinunter, an der Kirche vorbei. Beim Bäcker gegenüber biegt er ab und überquert kurz danach die Fahrbahn. Zwei Sekunden später und ein weißer Kleinbus mit neugierig glotzenden Kindern hätte ihn erwischt. Ronny bleibt stehen und holt Luft. Am Himmel treiben kleine weiße Wölkchen. Ob Mama auf einer von ihnen sitzt und zu ihm heruntersieht? Was hat Susanne gemeint, als sie sagte, seine Mama sei vom Balkon gefallen? Hatte sie recht? Oder hat sie nur dummes Zeug erzählt? Ronnys Mama hat Höhenangst. Sie ist noch nie allein auf dem Balkon gewesen. Papa hat ihm mal erzählt, dass Rambo, der Kater, drei Sekunden braucht, um vom achten Stock hinunter auf den Rasen zu fliegen. Katzen breiten nämlich die Beine aus und ihr Körper wirkt beim Fallen wie ein Segel. Sie verletzen sich nicht. Nicht mal dann, wenn sie aus dem achten Stock stürzen. Mama fällt bestimmt schneller. Sie ist dick und schwer. Ronny zweifelt sehr, dass ihre geblümte Kittelschürze wie ein Segel funktioniert. Sie hat Löcher unterm Arm und es fehlen drei Knöpfe.

Ronny dreht sich einmal um sich selbst. Wohin soll er jetzt laufen? Neben ihm steht ein rostiger Kaugummiautomat voller bunter Kugeln und Plastikspielzeug. Auch einen winzigen Kompass gibt es dort. Er ruft Ronny zu: Gib mir Geld und ich zeige dir, wo du langlaufen sollst! Doch Ronny hat kein Geld. Also rennt er einfach geradeaus weiter. 

RONNYWo Geschichten leben. Entdecke jetzt