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Carmen hebt ihn auf den Gepäckträger ihres Fahrrads. Es ist weiß und mit bunten Blumen beklebt. Einige Aufkleber lösen sich schon ab. Ronny möchte gern daran herumpulen, verkneift es sich aber.

»Halt dich fest!«

Durch den Hosenboden spürt Ronny die Nässe. Es hat geregnet. Das Metallgestänge drückt. Hoffentlich dauert es nicht so lange bis zu Carmens Wohnung. Er hat vergessen, die Hausschuhe auszuziehen. Er beugt sich nach vorn und krallt sich in Carmens Jacke. Schlingernd rollt das Rad auf die Straße. Ronny verliert einen Hausschuh. Er will Carmen Bescheid sagen, doch sie hört ihn nicht, weil sie weint. Ganz fürchterlich weint. Immer wieder zieht sie den Schnodder hoch und wischt sich über die Augen. Ihr Weinen klingt nicht traurig, eher angstvoll und verzweifelt, als könne sie nicht glauben, dass sie mit Ronny auf diesem Fahrrad sitzt und sie wie eine Wilde mit ihm nach Hause rast.

Ronny sieht nach hinten und verrenkt sich fast den Hals. Sein Hausschuh ist nur noch ein winziger grüner Fleck auf dunklem Asphalt. Der Kindergarten ist schon hinter Bäumen und Gestrüpp verschwunden. Die Sonne kommt heraus und schiebt die dunklen Wolken beiseite. Sie sehen aus wie ein Drache. Nein, ein Löwe, ein Elefant. Irgendwas mit Beinen und einem Kopf. Die Mamawolke kann Ronny nicht entdecken. Vielleicht war sie auch niemals da. Er hat sie sich nur eingebildet, weil er so klein und noch so dumm ist. Papa sagt immer, starre nicht so aus dem Fenster, dann wird dein Kopf ganz leer. Male nicht immer nur Kreise und Striche. Da erkennt man ja nichts. Willst wohl Künstler werden, was! Dann lacht er heiser, verschluckt sich an seinem Bier oder hustet und lässt die Zigarette auf den Teppich fallen. Wenn Ronny bis Tausend zählen kann, dann will er herausfinden wieviele Löcher dort hineingebrannt sind. Das hat er sich fest vorgenommen.

Carmen biegt um eine Ecke und Ronny muss sich gut festhalten, damit er nicht vom Gepäckträger rutscht. Er friert, weil er auch seine Jacke im Kindergarten vergessen hat. Doch er findet, dass Frieren besser ist, als eine viel zu große Jacke mit eingerissenem Ärmel. Als er sie zum ersten Mal trug, fand er in der Innentasche eine zerknüllte Zigarettenpackung. Ruven meinte, sie sollten damit aufs Klo gehen und gucken, was man damit anfangen kann. Doch Ruven ist nicht richtig im Kopf und man weiß nie was man mit ihm als nächstes erlebt. Erst plustert er sich auf wie ein Spatz bei Schneefall und dann kackt er sich beim Puzzeln in die Hose, weil er ein fehlendes Teil nicht findet. Ronny zerknüllte die Zigarettenverpackung noch ein bisschen mehr und steckte sie in Sabines Schuhe, die immer so furchtbar sauber glänzten und nach Seife rochen. Damit war die Geschichte erledigt.

Als Carmen bremst, lässt Ronny sich schnell vom Gepäckträger gleiten. Er will nicht noch einmal unter die Arme gefasst und heruntergehoben werden. Er kann alleine absteigen. Nicht wie Oma Trude, die gar nichts mehr alleine kann. Waschen im Bett, Kacka und Pippi im Bett, dann raus in den Rollstuhl, ab vor den Fernseher, abends zurück ins Bett, Decke drüber, gute Nacht. Was Oma Trude jetzt wohl macht? Wenn Mama ihn nicht abholt, was macht sie dann? Ist sie zuhause? Muss Mama heute länger Brot und Kuchen verkaufen? Sonst ist Ronny immer da. Aber heute? Wer kümmert sich um Oma Trude? Jemand muss doch um 16:00 Uhr ihre Quizsendung einstellen. Alleine kann sie das nicht. Und wer gießt ihr den Tee auf und zündet ihre Zigarillos an? Ronny malt sich aus, wie Oma Trude als Skelett in in ihrem rostigen Rollstuhl sitzt und mit den Zähnen klappert: »Ich brauche was zu Paffen! Mein Pfefferminztee, aber dalli! Gleich fängt das Quiz an, ihr Vollidioten!«

Unschöne Bilder, die Ronny nicht mag. Doch er hat immer wieder solche Ideen, die in seinem Oberstübchen sehr lebendig herumspuken. Er kann die Bilder riechen, schmecken, fühlen. Ob er auch krank ist im Kopf? Wie Ruven?

Der Spuk verschwindet ganz von allein als Ronny Carmens Haus sieht. Es ist mehr Pflanze als Haus. Die Wände aus rot gestrichenem Holz sind überwuchert mit Klettergewächsen. Nur die Fenster gucken heraus. Ronny sieht Blumen in Töpfen, Figuren aus Papier, große und kleine Steine, einen Kerzenhalter mit weißen Kerzen. Zwei sind heruntergebrannt. Ein Weg führt um das Haus. Schiefe Platten. Unterschiedlich groß. Wie Puzzleteile aneinandergelegt. Dazwischen Gras, kleine gelbe Blumen, dunkelgrüne Blätter. Bienen summen. Eine Hummel schwirrt Ronny um den Kopf. Bäume und Büsche wachsen um das Haus und hüllen es ein wie frische grüne Watte. Der Garten ist riesig. Bäume voller Äpfel und Pflaumen. Eine Holzleiter. Eimer voller Obst. Eine Krähe pickt an einer Frucht und fliegt davon, als Ronny in die Hände klatscht.

»Die darf das, Ronny! Ich habe genug Obst im Garten.«

Jetzt lächelt Carmen. Doch nur kurz und verhuscht. Gleich darauf ist ihr verschobenes Trauergesicht wieder da. Ronny läuft unter die Bäume. Er streckt sich und pflückt einen Apfel. Grün ist er, mit roten Flecken. Er findet ein Loch und steckt den Finger hinein. Carmen steht auf der Terrasse und starrt in den Himmel. Dann lässt sie ihre Umhängetasche auf den Boden gleiten und betritt das Haus. Ronny hört ein Bellen. Dann Carmens beruhigende Worte. Und wieder ein Bellen. Dieses Mal leiser. Ronny zieht den Finger aus dem Apfel und beißt hinein. Er schmeckt herrlich süß. Saft läuft ihm aus dem Mund und tropft auf das blau-weiß gestreifte T-Shirt. Ronny überlegt wieviele von diesen Äpfeln er essen könnte. Zwei? Drei? Einen ganzen Baum voll? Er dreht sich um und erschrickt. Ein hellbrauner Fellberg steht vor ihm und leckt ihm die Hand.

»Das ist Alberich.«

Carmen krault den Hund zwischen den Ohren. Er streckt die rosa Zunge heraus und hechelt. Ronny ist stocksteif. Jetzt nur nicht bewegen. Was hat ihm Mama immer gesagt? Keine fremden Hunde streicheln. Nicht in die Augen gucken. Nicht am Schwanz ziehen. Ronny guckt in die Apfelbäume, lässt die Arme hinter dem Rücken verschwinden und verdrängt jeden Gedanken an einen Hundeschwanz.

»Alberich ist lieb. Du kannst ihn ruhig streicheln!«

Carmen setzt sich im Schneidersitz auf den Boden und greift Alberich um den Hals als würde sie mit ihm ringen wollen. Der Hund kippt in ihren Schoß und schließt die Augen.

»Er ist groß.«

»Ja, sehr groß!«

»Größer als ein Kater!«

»Stimmt! Willst du mal?«

Carmen krault Alberich den Bart. Zögerlich streckt Ronny die Hand aus. Gleich reißt Alberich die rot glühenden Augen auf, öffnet das Maul und schnappt zu. Haps. Und Ronny muss für alle Zeiten mit einer Hand leben. Er denkt schon darüber nach, was man im Leben mit nur einer Hand anstellen kann, als seine Finger weiches Fell berühren und sich der harte Kloß in seinem Hals in Wohlgefallen auflöst.

RONNYWo Geschichten leben. Entdecke jetzt