Die Zeit verliert an Bedeutung, wenn man sich ihr bemächtigen kann.
Jeder von uns wurde einst in dieses Waisenhaus abgeschoben.
Für ein paar Münzen, um den Hunger zu stillen und der Kälte des Winters trotzen zu können, wurden wir verkauft.
Die Leute, die uns damals hierherbrachten, sollte man wohl Familie nennen.
Sie waren nie weniger Familie – Vater, Mutter – als ein Fremder auf der Straße.Die für mich Nächsten werden auf ewig meine Brüder und Schwestern dieser Hölle bleiben. Ich würde sterben, könnte ich sie dadurch retten.
Bluttest für Bluttest, Untersuchung für Untersuchung und Experiment für Experiment lassen wir über uns ergehen, in der Hoffnung, dass das alles irgendwann ein Ende haben wird und wir nicht verloren gehen. Zwischen den Zeiten oder unserem Denken, dem Himmel oder dem ewigen Fegefeuer.
Das hier ist der Anfang – das sage ich mir immer.
Die Worte sind nicht beruhigend, sondern das pure Gegenteil. Beängstigend und bedrohlich fest legen sie sich um meinen Hals, schnüren ihn zu. Niemand könnte je verstehen, was ich krächzend flüstere.
Das hier ist der Anfang. Und mit jeder einzelnen Sekunde wird alles schlimmer werden.Weil der Fortschritt nicht schläft und wir noch nicht aufgegeben wurden.
Denn jeder von uns kann in der Zeit springen.
Doch die Wahrheit, die nicht gehört werden will, sucht sich flüsternd ihren Weg an die Oberfläche. Unsere Fähigkeiten sind nicht ausgereift. Keine zwei Personen beherrschen exakt dieselbe. Wir haben noch keine Kontrolle – jede dieser „Begabungen" hat eine Schwäche.„Sylan", werde ich zur abendlichen Untersuchung aufgerufen. Als hätte sich in den letzten paar Stunden auch nur eine Kleinigkeit geändert. Heute nicht.
Widerstandslos gehorche ich. Schon zu lange gehört es zu meiner Routine, schon viel zu lange gehört Willenlosigkeit zu meinem Verhalten.
Wenn ich überleben will, muss ich gehorchen. Und ich will überleben, denn würde ich mich weigern und alles aufgeben, würden die Schmerzen mich besuchen kommen.
Vielleicht würde ich zwischen den Zeiten entsorgt werden, denn zwischen den Zeiten weiß niemand, was passiert.Die Zeit verliert an Bedeutung, wenn man sich ihr bemächtigen kann. Seit wie vielen Tagen, habe ich mein Gefühl für die kostbaren Sekunden, Minuten und Stunden meines Lebens verloren? Seit wie lange existiere ich, statt zu leben?
Ich weiß es nicht.
Ich werde es nie wissen.Meine Füße gehen den immergleichen Weg. Den, den sie mich gestern, oder vorgestern Abend schon getragen haben. Den, dem auch meine Schritte morgen und übermorgen wieder folgen werden.
Denn die Zeit bleibt nie stehen.
Sie fließt wie das Wasser in einem Fluss – nur manchmal löst sich ein Tropfen und fliegt davon.Der Tropfen sind wir – wir, die die Versuchskaninchen sind. Denn für uns gelten früher festgeschriebene Regeln nicht mehr.
Die Zeit gleicht einem Wirbelsturm – Tag und Monat, Jahr und Jahrzehnt verwirren ineinander und bilden ein großes Ganzes. Es gibt kein Ende – nie.Während ich gehe, vermeide ich jeglichen Blickkontakt. Meine Augen sind auf den Boden unter mir geheftet, als wäre er das Interessanteste, das es hier gibt. Aber eigentlich bietet er mir Halt, so vertraut normal er bleibt. Im Gegensatz zu allem anderen verändert er sich nicht. In ihn frisst sich der Zahn der Zeit nicht.
Die weiße Tür empfängt mich. Die kalte Klinke schmiegt sich an meine Handfläche. Ich drücke sie hinunter und schiebe mich durch einen kleinen Spalt.
Ich starre in meine Augen. Das Braun meiner Iriden wird immer trüber, das Violett in der oberen Hälfte wächst.
Der Spiegel zeigt mir wieder einmal aufs Neue, wer ich nicht bin.
Wer ich nicht sein will.
Wer ich nie sein wollte.

DU LIEST GERADE
Zwischen den Zeiten
ParanormalZeitreisen. Ein Traum, der die Menschheit schon seit hunderten von Jahren prägt. Ein Hirngespinst, dem selbst die weisesten Wissenschaftler irgendwann nachgegeben haben. In vergangenen Tagen schlängelten sich Gerüchte durch die Münder der Leute - zi...