Kapitel 3

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Meine Knie schlottern, Schweiß sammelt sich auf meiner Stirn. Als würde ich einen großen Berg besteigen, dachte ich wäre am Gipfel und erkenne, dass nicht einmal ein Drittel geschafft ist – so fühle ich mich.
Schon beim Frühstück konnte ich kaum etwas essen – zu viel Angst hat sich in meinem Magen breit gemacht und füllt ihn mit dem flauen Gefühl.

Wir alle wollen doch jemand sein. Auch ich. Dafür würden wir weit gehen – aber nicht zu weit.
Heute werde ich den Schritt gehen, den ich mich am liebsten weigern würde. Den ich nie gehen würde, wenn ich nicht müsste.
Ja, ich will jemand sein. Ein Mensch mit Gefühlen und einem normalen Leben. Kein Experiment.
Ich will Träume haben dürfen und nicht in der Hoffnungslosigkeit untergehen wie ein Schiffsbrüchiger. Ich will mich mit meinen Fingern an jeden einzelnen Faden klammern, der mich aus dem Wasser fischen könnte – an all meinen Wünschen, Vorstellungen und Träumen.
Denn zu Träumen ist ein Luxus, den ich mir nicht leisten kann. Wenn ich es mir erlaube, werde ich endgültig versinken. Aber solange ich mich noch knapp über Wasser halten kann, darf ich nicht schwach werden und nachgeben. Solange muss ich kämpfen, denn ich weiß, dass ich es bereuen würde. Dass ich mich selbst verurteilen würde, würde ich einfach aufgeben – auslassen und die Wellen mich überspulen, überfluten lassen.

Mit jeder Sekunde, die verstreicht, kommen die heutigen Experimente näher. Ich will nicht.
Doch – wie viele Sekunden vergehen? Sind gerade fünf oder zehn Minuten verstrichen?
Denn obwohl wir uns zu viel mit Zeit beschäftigen, existiert nur in manchen Laborräumen eine Uhr.
Die Zeit wurde entkräftet – durch unsere Fähigkeit und dem einfachen Fehlen einer ablesbaren Einheit.

Und dann ist es so weit – die letzte Stunde hat geschlagen und ich warte auf meine sinnbildliche Hinrichtung. Denn als nichts anderes, kann ich es beschreiben, jede Untersuchung.
Tausend Tode musst du sterben.
Und dann? Werde ich dann frei sein?

Nein, vielmehr kann ich dann tausend und einen Tod zählen.
Es handelt sich um psychische Tode, denn mit jedem Tag stirbt ein kleines Stück mehr von mir; meinem Geist, meiner Seele. Ich schreie sie mir aus dem Leib, in der Hoffnung, dass mich jemand hört. Doch meine Schreie sind stumm – niemand hört sie, niemand würde sie bemerken.

Wenn ich die Hand austrecke und versuche mich zurück an die Oberfläche des unendlich tiefen Meeres, in dem ich Sekunde für Sekunde Stück für Stück immer mehr versinke, zu kämpfen, dann wir mich niemand herausziehen.

Die gewohnte raue Stimme ertönt über die Sprechanlage. „Sylan", werde ich gerufen. Wie gewohnt gehorche ich willenlos; stehe auf und lasse meine Schritte mich führen. Ich folge ihnen in den Labortrackt und hinter die gewohnte Tür. Dieselbe, durch die ich gestern Abend gegangen bin.

Mit jedem Aufsetzen meiner Füße gewinnt der Kloß in meinem Hals an fürchterlicher Schwere, bis ich Angst habe, er könnte mich erdrücken oder mir meine Stimme für immer rauben.
Jeder könnte mir ansehen, dass etwas nicht stimmt. Vorallem die Professoren. Besonders die Professoren.
Ihr wachsames Auge verfolgt mich überall hin – selbst in den Schlaf. Ich fühle mich stets beobachtet, kann nichts für mich behalten. Jetzt nicht einmal mehr meine Gedanken.
Mein Untergang wird folgen; diese Sicherheit wiegt mich im Arm, will mich beruhigen, doch bewirkt das Gegenteil.
Man singt mir ein Schlaflied, doch erwartet nicht, dass ich jemals wieder erwache, sollte ich meine Augen schließen.

Heute kämpfe ich nicht denselben alten Krieg wie gestern und vorgestern. Wie immer. Heute kämpfe ich auch gegen mich. Ich darf nicht umdrehen, einen Rückzieher machen – die Folgen könnten schwerwiegend sein.
Ich werde meine Augen nicht schließen.
Leise Stimmen in meinem Kopf flüstern, dass ich nicht gewinnen kann – nur verlieren. Aber schlimmer kann es nicht kommen. Ich muss stark bleiben und weiter machen. Vielleicht bin ich ja die Person, die etwas ändern kann. Unwahrscheinlich, aber nicht undenkbar.
Meine Fähigkeit habe ich noch nie genutzt, ich spüre lediglich, dass sie sich entwickelt hat. Mit den übernatürlichen Kräften ist das so eine Sache – man weiß einfach, dass man es kann, genauso wie wenn man geht. Man kann sich auf seine Füße verlassen, sie werden einen nicht im Stich lassen.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Dec 16, 2021 ⏰

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