2384 Tage vor dem Verhängnis

37 1 0
                                    

Die lauten Kirchenglocken dröhnten in den Ohren der Geschwister, waren das einzige Echo, welches sie bewusst wahrnehmen konnten. Jeder Schlag war eins mit dem Schlag der Herzen. Jeder einzelne Schlag war wie ein Schlag in die kalte und trübe Realität, in welcher sie nun gefangen waren.

Sie war tot.

Noch immer konnten sie es nicht begreifen. Sie würden ihr fröhliches Lachen nicht mehr hören und ihre strahlenden Augen nicht mehr sehen können. Ihre Zuneigung nie mehr spüren können. Nie mehr wieder würde sie durch die Haare der Geschwister streichen, nie wieder würde sie die alten Geschichten erzählen können. Tiefe Schluchzer verließen die Kehlen der jungen Brüder, welche am Rande der aufgewühlten Erde standen und nichts mehr tun konnten, als die Wahrheit zu akzeptieren, als das zu akzeptieren, was indessen vor ihnen lag.

Sie nahmen ihre Umgebung kaum wahr, weder den kalten Wind, welcher die letzten trockenen Blätter von den toten und kahlen Bäumen trug, den leichte Regen, welcher die Klamotten durchnässte und die bittere Kälte, welche bis in die Knochen zu ziehen schien, noch die traurigen Bemitleidungen der restlichen Trauergäste, die fragenden Anmerkungen, wie so junge Kinder ohne Mutter aufwachsen könnten. Mitleid in jedem einzelnen Satz, in jedem einzelnen Blick. Der Bestatter erzählte ruhig und fast schon unbeteiligt von ihrem Leben, ihrem Mann und ihren Söhnen, die unendliche Liebe, die sie für ihre Familie verspürt hatte. Er erzählte von ihrer Leidenschaft des Gärtners, von den roten und weißen Rosen, die sie mühevoll gezogen hatte und welche überall in ihrem Schlossgarten wucherten. Nun würden sie verwildern, sich verbreiten und als dorniges, knochiges Gebüsch enden, welches am Ende verkommen würde.

Vereinzelnde rote Blütenblätter der edlen Pflanze lagen inzwischen tief in der Erde, zusammen mit einem Sarg aus hellem Fichtenholz, in dem wohl die einzige Person lag, die für ein Gefühl von Heimat und Liebe in dem großen Schloss gesorgt hatte.
Die Rede war zu lang und doch zu kurz. Zu lang für die Brüder, sie wollten nicht zuhören müssen, wollten es nicht hören, denn das würde bedeuten, dass es wirklich die Realität war, nicht nur böser Traum. Zu kurz, als dass die Persönlichkeit und ihr Leben richtig dargestellt werden könnte. Niemand vor Ort würde den Wert dieser Person verstehen, niemand würde verstehen, was ihr Verlust wirklich zu bedeuten hatte.

Alaric sah zum Bestatter, wie er langsam eine weitere Rose nahm und in das tiefe Loch fallen ließ, ehe er ein Gebet sprach in einer Sprache, die wohl sonst melodisch, doch hier nur falsch und verzerrt klang. Er schloss seine hellblauen Augen, dieselbe Farbe wie die ihrer, verschränkten seine Hände und presste die Lippen zu einer schmalen Linie zusammen, bis sie schon fast weiß wurden. Die eigentlich gelockten Haare klebten flach an seiner Stirn, sahen in der Nässe fast schwarz aus und bildeten einen starken Kontrast auf seiner hellen Haut. Er konnte und wollte nicht hinsehen und doch wusste er, dass er musste, so öffnete er seine Augen wieder, wandte den Blick aber sofort wieder ab. Seiner eigenen Schwäche bewusst werdend wanderte sein Blick zum Himmel, welcher immer noch mit dunklen und schwarzen Wolken überzogen war. Die vereinzelten Regentropfen fielen herab, durchnässten die Erde weiterhin. Er blendete die Stimme des Bestatters aus, lauschte stattdessen den weiteren Mitleidsbekundungen, den Fragen, weshalb ihr Vater, der Herrscher von Tyris nicht seinen Söhnen beistand sowie den Antworten, wie sehr der Witwer unter dem Verlust litt. Alarics Herz wurde schwerer, umso mehr Aufmerksamkeit er den meist fremden Stimmen schenkte. Wie sehr er sich zu diesem Moment wünschte, nichts hören zu können.

Asher stand direkt neben seinem großen Bruder, ihre Schultern berührten sich leicht, doch sein sonst kalter Blick war mit Trauer auf das Loch in der Erde gerichtet. Auf das, was darin lag und auf das, was langsam mit Erde geschüttet wurde. Seine Fäuste waren geballt, drückten seine Nägel schmerzhaft in seine Handfläche, verwirrt von seinen eigenen Gefühlen. Er war wütend, traurig, enttäuscht. Wütend auf die Welt, traurig durch den Verlust, enttäuscht, dass sie ihn alleine gelassen hatte. Er hob seine Hand und legte seinen Zeigefinger und seinen Daumen an seinen Nasenrücken, drückte fest zu und presste seine Augen zusammen. So wie sein Bruder waren sie in einem hellen Blau, fast schon weißlich unterlegt. Seine Schulter begannen stark zu zittern, sorgten dafür, dass Alarics Blick sofort auf seinen jüngeren Bruder fiel. Schnell wandte er seinen Blick wieder ab. Den Gesichtsausdruck konnte er nicht ertragen. Das Zusammenpressen der Lippen wurde zu einem Beißen auf die Unterlippe. Die raue Haut darunter bereits gerissen durch die letztlich bekommene Angewohnheit. Zögerlich trat er ein wenig näher, sodass die breiten Schultern sich fester berührten, aus einer leichten Berührung eine Art Zuspruch, eine tröstende Geste wurde. Mehr brauchte es nicht, das Zittern wurde weniger, einzelne bebende Atemzüge wurden gemacht, ehe Asher sich wieder auf die Gegenwart konzentrierte und versuchte, den Schmerz in die hinterste Ecke seines Bewusstseins zu verdrängen. Lieber zog er die Wut in den Vordergrund, konnte damit schon immer besser umgehen, das Gefühl besser verstehen. Hatte er sich doch nur für seine Mutter zurückgehalten, hatte sich für sie bessern wollen.

Fragmente der VergangenheitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt