Kapitel 3

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"Vielen Dank, Officer." betonte der Professor, seinen leichten Unmut vor ihm verbergend. Lautlos stiegen beide nach einer verhältnismäßig knappen Fahrzeit aus dem engen Streifenwagen mit den unbequemen, dunklen Ledersitzen aus, und seine Miene begann sich wage zu verziehen. Sie standen direkt vor dem Gelände, welches er nach all den Jahren zu gut kannte, zu gut in Erinnerung behielt, und zu sehr einst vergeblich daran festhielt, es nicht wieder zu sehen. Gleich mehrere unterschiedlich hohe Streifenwagen und Helikopter bekleideten den Asphalt, verdichteten die kühlen Lichter des Hintereinganges. Eine inzwischen gewohnte Erschöpftheit markierte sein Gemüt, durchströmte bekannte Emotionen, als wäre die Zeit für wenige Momente wie lose Eiswürfel unbedeutend durch einen Raum geschlittert - unaufhaltsam, überwältigend und machtvoller als jede sonst noch so einflussreiche Handlung. Seine chronische Müdigkeit, erkennbar an den markanten Augenringen seiner schlaffen Augenlider, hätten ausreichend Begründung für seine Unaufmerksamkeit sein können, doch hatte dieser Ort seit jenen Zeiten mehr einen unvorstellbar starken Einfluss auf seinen Geist, dass in diesen Momenten jene Form der geistigen Abwesenheit unabwendbar zu sein schien. Er wirkte wie gelähmt, als er Gedanken an längst vergangene Tage nicht von sich weg bekam. Ein auffällig-weißer Blitz drängte sich ihm wenige Meter entfernt vor, plätschernder Regen zog sich nach. Es goss in Strömen, doch der Moment schien nun alles in dieser Welt relativ werden zu lassen. Regungslos stand er da, seinen Blick auf den Erdboden mit den immer heftig werdenden Wassermassen gerichtet. "Michael!" eine ihm bekannte Stimme hielte seine Bewegungsfähigkeit an. "Hast du ihn endlich gefunden, Michael?" Er antwortete, leicht angestrengt mit starrem Blick und gesenktem Kopf: "Nein."  "Oh mein Gott, warum tut jemand uns so etwas an!" Er schwieg, genau wissend über jene Konsequenzen seines Schweigens. Die nassen Regentropfen liefen sorgsam seinen ergrauten, mittelkurzen Scheitel herunter, wirkten im Moment wie heilendes Balsam auf seine Kopfhaut, die ebenfalls zu glühen drohten. Ein aus der Ferne waltender Ruf weckte seine Aufmerksamkeit, zog ihn hart in die Realität zurück. "Prof. Strange, kommen Sie her! Wollen Sie sich etwa noch was einfangen?" Eine Realität, so hart wie sie beschrieben wurde, die nach seinen Regeln hätte anders ablaufen sollen... 

"Ich verspreche Ihnen, dass Sie mit dem Blut an Ihren Händen nicht mehr lebend da raus kommen. So war ich Ihnen hier in diesem Augenblick gegenüber stehe - ich kriege Sie!" murmelte der Professor vor sich hin, ehe er sich schwermütig mit langen Schritten auf den Weg zum Officer begab, welcher inzwischen seit einiger Zeit sicher unter einer einfachen Ziegelbedachung vor der Eingangstür der Police Station befand. "Darf ich fragen, was Sie da gerade gemacht haben, Mr. Strange? Sah mir sehr nach einem einstudierten Ritual oder so aus." Er schaute hoch, blickte tief in das manipulative Lächeln eines Mannes, der offensichtlich genervt wirkte. Er warf ihm lautlos eine passende Antwort mit einem leichten Biss auf seine Unterlippe entgegen, bevor sein störrischer Blick sich von ihm abzuwenden gelang. "Alles klar, Sir, ich wollte nur höflich sein, um die Stimmung etwas aufzuheitern" erklärte er, und bekam auch für diesen Kommentar die knallende, sich verschließende Antwort entgegen, nachdem er zuvor dabei geholfen hatte, die verriegelte Eingangstür mit seiner einheitlichen Ausweißkarte aufzumachen. Es war ein technisch neueres Modell, weshalb sie auch bei den moderneren Abteilungen des Gebäudes zu funktionieren schien. "Der Typ macht seinen Namen alle Ehre!" war das letzte, was er leise vor sich hin sprach, bevor auch er den Weg durch die Tür - zurück in sein gewohntes Arbeitsumfeld - wiederfand. Der Eingangsraum der "Police-Station Department of Portland" war geschmückt mit einem schlicht gehaltenen Mobiliar, matt-wirkenden Beigetönen auf Teppichböden sowie den Wänden, die oberhalb mit weiß als Kontrastfarbe verarbeitet waren. Das erste, was dem Professor ins Auge stach, war das Wartezimmer, an dem so mancher offensichtlich seine letzten Minuten vor dem Verhör verbracht hatte, bevor er oder sie freundlich vom Chief oder wem auch immer herein gebeten wurden. Auf den ebenfalls weißen Sitzgelegenheiten aus Metall, die alles wie in einem klassischen Wartezimmer eines Ärztehauses ausschauen ließen, saßen jeweils ein Mann und eine Frau mit Kinderwagen und einem schreienden Säugling darin. Ihm konnte man ansehen, dass er ein Drogenabhängiger sei, mittleren Alters mit tiefroten Augen und verdreckter Mütze. Seine Reaktion nach einem ersten Augenkontakt schien sich dadurch zu bestätigen, dass er dauerhaft versuchte, sich von dem Professor abzuwenden. Es wirkte, als wolle er nicht erkannt werden, oder viel mehr, als hätte er etwas zu verbergen, und wolle es auch dann nicht preisgeben, wenn die Beweise offenkundig auf den Tisch standen. Die Frau hingegen war eine Afroamerikanerin, man konnte ihr Leid und ihre Trauer beinahe von ihren Augen ablesen, hätte das Kind es nicht längst verkörpert. Aufgeregt zitternd versuchte Sie, das quengelnde Kind zu beruhigen, mit Worten und sanften Liedern es in den Schlaf zu bringen. Doch nichts kann man selbst seinem Kind vermitteln, wovon man nicht selbst überzeugt war, dachte sich der Professor, und ging ohne lauten Geräusche an ihnen vorbei, den langen Flur entlang, während Officer Woodward seine Felljacke anzuhängen versuchte. "Sir, bitte warten Sie auf mich." rief er. "Worauf soll ich warten, Officer. Ich weiß vermutlich schon, wo ich hin muss." Er schaute zurück, blickte ihn mit dem einstudierten Blick an, bevor er wieder geradeaus schaute. "Im Moment sind sie ein dringender Zeuge eines Tatverdachts, Sir, und da kann ich Sie unverantwortbar so einfach mitten im Gebäude spazieren lassen." , versuchte er sich zu rechtfertigen, "und außerdem erwartet Sie nicht irgendwer, sondern der Chief höchstpersönlich." Nochmal drehte er sich um, verzog seine Miene dieses Mal zu einem Lächeln, an welchem seine gepflegten Zähne sich von seinem Bart abzusetzen gelangten. Eine erneute, fiese Stille machte sich breit, sodass er im Augenwinkel die Aufmerksamkeit des Drogenjunkies für diese Konversation vernehmen konnte. "Mr. Woodward, richtig? Ich denke, das es nicht nötig ist, dass Sie mitkommen. Ich kenne den Chief seit inzwischen vielen Jahren." Sein Blick wirkte fokussiert, doch antwortete der Officer schnell "Ich bestehe darauf, Sir." Einige Momente vergangen, bis sich der Blick des Professors von ihm abwendete. "Nun gut. Dann, wenn Sie bereit sind."  fugte er an, bevor der Officer seine Jacke losließ und sich beide auf den Weg entlang des Flures durch das Department machten. 

Die langen Gänge, an welchen Sie ohne weiterer Konversation lautlos vorbeigingen, waren voller offener Büros, bestückt mit typischer Ausstattung: glimmenden Computern auf Stand-bye, und einer einigermaßen ausreichenden Menge an Platz.  Nur wenige Monitore waren noch in Betrieb, und einige von ihnen schienen es nun nicht mehr abwarten zu können, ihre Arbeitszeiten gefüllt zu bekommen. Es arbeiteten überwiegend Männer in diesem Sektor, war es doch vielen Frauen seit der Machtübernahme vom Chief deutlich schwieriger gemacht worden, dort Fuß zu fassen. Die meisten von Ihnen wurden gekündigt, nachdem sie wegen Krankheit oder sonstigen für längere Zeit ausgefallen sind, andere von ihnen hätten in Bewerbungsgesprächen vermutlich vorher Präsident sein müssen, um eingestellt zu werden. Er erinnerte sich daran, dass es Zeiten gab, an denen die männliche Domäne weitaus weniger ausgeprägt war wie jetzt, als die Abteilung weniger durchseucht von egozentrischen Menschen war, die ausschließlich auf ihren eigenen Erfolg aus waren. "Es hat sich wohl viel inzwischen hier verändert, schaut alles etwas diskreter und übersichtlicher aus." bemerkte der Professor, seine stampfenden Schuhe dem vorangehenden Officer weiter nachtrabend. "Ja, Sir. Der Chief setzt eher auf ein konservativeres Zusammenarbeiten, damit wir uns besser untereinander behaupten können." Prof. Strange richtete ihm seine Aufmerksamkeit, dachte über die gesprochenen Worte nach, seinen Unmut verdrängend. Er setzt auf ein konservativeres Zusammenarbeiten. "Nun ja, er legt einfach gerne seinen Fokus mehr auf die zielgerichteten Dinge im Leben. Arbeit und Konzentration für eine bessere Effektivität - das Police Department hat selten so geringe Zahlen an ungelöste Fälle und freilaufende Tatverdächtige verzeichnet. Die Gesellschaft sollte sich so langsam von der Legende der sozialen Gerechtigkeit verabschieden - meiner Meinung nach sollten viele von denen, die hier landen, sowieso für einige Zeit weggesperrt werden." Der Professor hielt an, der Officer schaute zurück, hielt daraufhin ebenfalls an. Er kam ihm näher, bedächtig und doch orientiert sah er ihm in die Augen. "Ein unschuldiges Leben darf niemals für etwas bestraft werden, was es nicht getan hat. Schreiben Sie sich das hinter die Ohren, bevor Sie das nächste Mal den Mund aufmachen." unterrichtete er ihm, während sein Blick von einem Auge des Officer's ins jeweils andere zu tanzen schien, ihn vor lauter Anspannung zum Schlucken brachte. "Sie haben Recht, Sir." erwiderte er, woraufhin sich der Blick von seinen Augen abwandte. "Schätzen Sie das Leben eines jeden Menschen." warf er ihn an den Kopf, woraufhin der junge Police keine Antwort mehr zu haben schien. Sie gingen noch einige Meter weiter die Schräge des Ganges entlang, an welchem man sich an manchen Tagen gut verirren kann, bis beide vor einer mit edlen Holzfarben lasierten Tür standen. Das Namensschild des Raumes, das mit Silberfarben überzogen wohl kaum zu übersehen war, markierte das Büro des Chiefs. ,Mr. Chief Strahm - Leiter der Police-Station Department of Portland' stand dort geschrieben, mit schwungvollen Buchstaben geschmückt. Eindrucksvoll überzogen, wie man es von ihm erwartet. Der Officer begann zu klopfen, und eine gedämmte Stimme ließ verlauten "Herein!", fasste der Professor an den Griff. Es wird Zeit, dachte er, die Vergangenheit holt ihn ein...

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