Kapitel 1

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"Guten Abend, Miss Canville.", rief er, die weiche, schwarz-lasierte Holztür in seinem linken Arm haltend. Er hielt sie offen, lies die junge Dame mit auffällig geglätteten Haaren gewähren, zeigte flüchtig in Richtung seines Arbeitszimmers. "Vielen lieben Dank, dass Sie sich zu dieser späten Stunde noch haben Zeit für mich genommen, Professor Strange. Ihre Einladung bedeutet mir viel!" antwortete sie, während sie selbstständig den Weg wie üblich zu den beiden bequemen, ebenfalls schwarz-ledernden Sesseln aufsuchte. "Das Vergnügen ist ganz meinerseits. Bitte setzen Sie sich doch. Darf ich Ihnen etwa einen frisch gekochten, warmen Tee anbieten?" Sie tat, was er befiehl, glättete ihr halbhohes Kleid, saß sich argwöhnisch hin, antwortete nicht. Ein Ausdruck von unsäglicher Angst ging von ihrer Miene aus, fasste wieder an ihr Kleid. "Miss Canville! Wie bin ich zu der Ehre gekommen, Sie jetzt noch begrüßen zu dürfen?" fragte er, seine goldbraunen Augen auf den jämmerlichen Zustand der Frau gerichtet. Ein Moment der Stille fiel durch den Raum, einzig das Ticken seiner Uhr an der Wand ertönte. Einen tiefen Luftzug raubend, sprach sie daraufhin: "Es geht um meinen Mann. Er hat mich wieder vor den Kindern geschlagen." "Wann hat er es getan?" antwortete der Professor, seinen Blick nun nicht mehr von den Händen der Frau abwendend. "Gestern Abend. Meine Tochter, Judy und ich, wir sind gemeinsam einkaufen gewesen, kamen erst relativ spät zuhause an. Er hat gewartet, schon beim Eintreten ist mir dieser grauenerregende Duft nach Alkohol in die Nase geflossen. Adam schlief bereits, Gott schütze ihn deswegen, doch das gäbe ihn nicht das Recht, wieder einmal so viel zu trinken. Er habe doch geschworen, damit endlich aufzuhören." "In der Tat, das erwähnten Sie bereits", fügte er rasch hinzu, "doch hat er Ihnen nicht geholfen?" "Ganz und gar nicht, eher war er damit beschäftigt, sich über jeden Euro auf dem Kassenzettel aufzuregen, der nicht für seine heißgeliebten Zigarren draufgegangen ist. Seine Schreie sind so nervtötend, müssen Sie verstehen, sie singen mich jede Nacht in den Schlaf. Ich habe keine Kraft mehr, gegen ihn anzukommen." "Das ist verständlich. Was ist dann passiert?" Der Proffessor bemerkte, wie die junge Dame erneut ihre Haltung ändert, sich nun mit weit verschränkten Beinen von ihm zuwendet.

"Prof. Strange, es war furchtbar. Erst zerriss er die Einkaufstüte mit den Markenhosen für Judy, warf diese in das gesamte Wohnzimmer umher, schrie meiner Tochter daraufhin ins Gesicht, sie solle auf der Stelle ihr Kinderzimmer aufsuchen." "Und tat sie das?" "Ja...", sie begann zu weinen, "... doch ich habe ganz genau gesehen, wie sie ihr rechtes Auge in Momenten durch den Türspalt des Wohnzimmers hielt, um alles genau betrachten zu können. Ich habe sie nicht davor schützen können!". Tränen flossen augenblicklich über ihre Wangen, doch sie versuchte, vor diesem höchst zwielichtigen Mann ihre Professionalität zu wahren. Ein weiterer, schmerzvoller Luftzug durchhallte den Raum, ließ das Ticken der Uhr für Augenblicke in den Hintergrund fallen. "Miss Canville," brach er das Schweigen, "was ihr Mann Ihren Kindern und einschließlich Ihnen zugefügt hat, liegt nur bedingt in Ihrem Einflussbereich. Sie haben drei Möglichkeiten, mit dieser Situation umzugehen." "Ach ja, und die da wären?" fragte sie. "Es gibt immer eine Wahl, Miss Canville. Entweder, man entscheidet sich dazu, dieses Leben als Geschenk nicht anzuerkennen - was ich persönlich sehr abstoßend finde, man entscheidet sich zu Unrecht dazu, seine eigene Verhaltensweise zu manipulieren, darin unterzugehen, oder man entscheidet sich dazu, die wahren Probleme anzugehen, dem Leben an sich eine neue Chance zu geben." "Wie meinen Sie das, Professor?" möchte Sie wissen.

"Sie sind noch ausgesprochen neu hier, erst seit Ende Dezember - und wie ihre Akte mir verrät, haben Sie bei Fr. Barsch eine andere Form der Therapie genossen. Ich setze sehr darauf, dass meine Patienten mir keine ihrer Gedanken enthalten, gleichauf wie rabiat und eindringlich sie für die sonstige Gesellschaft wirken mögen. Ich habe die Erfahrung machen dürfen, dass das Reden über Fantasien besonders hilfreich für die eigene seelische Gesundheit ist. Würden Sie sich darauf einlassen?" antwortete der Professor daraufhin. "Was möchten Sie wissen?" stimmte sich die junge Dame auf das folgende Gespräch ein. Ihre Kehle schluckte, ihr Blut pumpte immer schneller, und der Professor merkte nicht erst jetzt, wie sehr der Druck ihrer Umstände auf ihr lastet. Ruckartig beugte sie sich vor, nahm einen erneuten tiefen Zug der stickigen, nach Rauch riechenden Luft des sonst so gepflegten Arbeitszimmers. "Ich möchte erfahren, was Sie gefühlt haben, als er Sie geschlagen hat." "Es war wie im Rausch. Als er meinen Arm griff, mich mit samt seinem nach Alkohol stinkenden Körper an das Küchenfenster gepresst hat, mir seinen angestrengten, herrischen Blick zuwendete, habe ich mich in meiner Hilflosigkeit verloren. Er winkelte seine Fäuste erst ganz links von mir, holte aus, traf mein Gesicht, bis es zu bluten begann. Wieder, wieder und wieder hat er dies getan, konnte nicht mehr aufhören. Es fühlte sich so an, als würde die Zeit stillstehen." "Gut machen Sie das." "E-Er hat kaum aufhören können, mich an dieser verdammten Wand zu schütteln, mein Kopf manchmal gegen seinen stoßen zu lassen. Er wurde zorniger, griff nach einen Kochlöffel aus Metall, schlug ihn mit aller Kraft gegen meine Brust." Möchten Sie es mir vielleicht zeigen?" fragte der Professor sie mit einer sanften, aufrichtigen Stimme, ihren schluchzenden Klang entgegen. Sie öffnete langsam den oberen Bereich ihres Dekolletes, machte neben ihren zahlreichen blauen und bereits verheilten Flecken ebenfalls den riesigen, dunkellilafarbenen Ausschnitt auf Ihrem Brustbereich sichtbar. "Danke, Miss Canville, bitte ziehen Sie sich wieder an." forderte er sie daraufhin, bemerkte kurz den Scharm in ihren Augen. "Bitte fahren Sie fort." Die Dame setzte sich erneut hin, die Arme nun zusätzlich verschränkt. "Er hat mich zu auf den Boden geprügelt, hat mir ständig ins Ohr geschrien, ich dürfe niemals ohne seine Erlaubnis das Haus verlassen. Dabei habe ich ihm doch am Nachmittag noch geschrieben, während er noch auf Arbeit war, dass ich mit Judy noch spontan ein paar Sachen für ihre Jugendweihefeier besorgen möchte." Gehen Sie arbeiten, Miss Canville?" erkundigte sich der Professor. "Nein, er und ich haben sich schon vor Jahren darauf geeinigt, dass er für die Arbeit und ich für den Haushalt zuständig bin." "Würden Sie das ohne ihn auch so machen?" "Ich kann es Ihnen ehrlich gesagt nicht sagen", lügte sie, "doch ich habe schon öfter mal mit ihm über einen Nebenjob für mich gesprochen. Da die Erziehung der Kinder allerdings relativ viel Zeit beansprucht, und er sich für solche Arbeiten wie sonst auch zu schade ist, sind mir da die Hände gebunden." Ihr Blick brach sekündlich mit seinem Gesicht ab, sie fand das Bild mit der Diplomarbeit, die groß und auffällig im Raum platziert ist.

"Bitte denken Sie nichts Falsches von mir, Prof. Strange, aber ich fühle großen Hass, wenn dieser Mann von der Arbeit kommt. Manchmal stelle ich mir Dinge vor, die jetzt vielleicht etwas komisch wirken, vielleicht sollte ich mich einfach endlich von ihm trennen..." führte sie ausgiebig aus. Der Professor setzte sich auf, räusperte seine Stimme, tastete nach seinem Bart, bevor er die Stimme erhob. "Miss Canville, Sie müssen Folgendes wissen. So sehr Sie vielleicht diese Gedanken im Moment ablehnen, sie sind dennoch da, haben ebenfalls ihre Berechtigung. Hass wird in unserer Gesellschaft leider zu stark verurteilt, und weil sich niemand mehr erlaubt zu hassen, unterdrücken wir dies so stark, dass wir Menschen zu psychischen Krankheiten tendieren. Der Weg zur Handlung ist auch immer ein Weg zur Heilung." sprach er mit leicht angezogener, tiefer wirkenden Lautstärke. "Danke, Prof. Strange, danke für Ihre Bereitschaft, mir zu helfen. Ich schaffe das alles sonst nicht mehr." schluckte die junge Frau erneut, wischte langsam ihre Tränen auf, machte deutlich, dass das Gespräch vorbei sei. "Das müssen Sie auch nicht, solange Sie sich auf den Weg der Besserung einlassen. Ich würde mir wünschen, dass wir beim nächsten Gespräch Ihre Gedanken und Fantasien etwas intensivieren." schob der Professor erneut ein, während sich beide auf dem Weg zum Eingangsraum bewegten. "Kommen Sie gut nach Hause, Miss Canville." verabschiedete er sich, blickte ein letztes Mal auf den inzwischen müden und gehemmten Anblick. Wortlos ging sie, den Kopf geduckt, die Türschwelle seines Hauses entlang, gab ihm in aller Höflichkeit die Hand, ging daraufhin in der Dunkelheit der Nacht unter. "Es wird noch viel Arbeit sein, sie zu heilen!" strömt ihn dermaßen durch den Kopf.

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