𝟾 - 𝚂𝚘𝚗𝚗𝚎𝚗𝚜𝚌𝚑𝚎𝚒𝚗

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Der Montag war schneller gekommen, als ich damit gerechnet hatte. Ich hatte mich kaum wieder zu Hause einleben können und mich an die Freiheit gewöhnen, dass die Zeit wie in einem Schnellzug an mir vorbeigerauscht war.

Jetzt stand ich vor dem Eingang zum Pausenhof und damit dem zu meiner Schule. Etwas unsicher schaute ich das Gebäude mit seinen vier Stockwerken hinauf. Dann glitt mein Blick zu der Stelle nicht weit von hier in der Nähe des Zaunes, der das Gelände umrahmte, dort, wo ich umgekippt war. Noch bis zum Gong, der den Beginn der ersten Stunde ankündigte, stand ich auf dem Gehweg, der nicht zur Schule gehörte, jedoch keine zehn Zentimeter von der Grenze zum Schulhof entfernt war. Jetzt, wo auch noch die Spätaufsteher in der letzten Sekunde in die Klassenräume geflüchtet waren, war es leer und still um mich.

Mit völliger Gelassenheit, obwohl ich definitiv zu spät zu Englisch kommen würde, schlenderte ich über den Schulhof und hinein in das Gebäude. Früher noch hätte ich mich beim besten Willen nicht getraut, Frau Neuhauser zu spät unter die Augen zu treten. Einmal war es mir passiert, obwohl ich schon hierher gesprintet war, aber die Zugverspätung von einer halben Stunde hatte sich auch durch meine Anstrengung nicht wett machen lassen. Danach hatte ich mir eine Sechs, Nachsitzen für eine ganze Woche jeden Nachmittag und ein noch schlechteres Verhältnis zu ihr eingehandelt. Das war auch der Zeitpunkt gewesen, an dem sie mich nicht mehr gesiezt und es regelrecht genossen hatte, als mir die Wut ins Gesicht gestiegen war, wenn sie mal wieder meinen Namen falsch ausgesprochen hatte.

Komplett ruhig drückte ich hingegen nun die Türklinke zum Klassenzimmer hinunter und trat in eine augenblicklich verstummende Klasse. Alle Augen waren auf mich gerichtet. Mein Blick jedoch galt meiner Lehrerin. Von meinen Eltern wusste ich, dass alle Lehrer wussten, wieso ich einen Monat lang dem Unterricht fern geblieben war und nur meine Mitschüler die Halbwahrheit erfahren hatte, ich sei krank und zu Hause. Sie jedoch wusste Bescheid, im Gegenteil zu den anderen, die mich kritisch musterten, als könnten sie allein durch ihre Blick herausfinden, was ich gehabt hatte. Nur Jimmy, der alleine an meinem Tisch saß, sah mich nicht prüfend an. Er sah mich- Verwundert blickte ich wieder zu ihm. Tatsächlich, er sah gar nicht zu mir, nicht einmal in meine Richtung! Sein Blick galt dem aufgeschlagenem Englischbuch vor ihm. Er gab vor, angestrengt zu lesen, doch mir entging nicht, dass seine Augen nicht mitwanderten, sondern nur starr auf einen Punkt gerichtet waren.

"Schön Sie hier zu sehen, Olivia", riss mich Frau Neuhauser von Jimmys Anblick weg und überraschte mich nicht nur mit einem Sie, sondern auch mit der richtigen Aussprache meines Namens und einem ehrlichen, freundlichen Lächeln, nicht dem spöttischen, wie sie es sonst immer für mich an den Tag gelegt hatte.

"Danke", erwiderte ich nur, lächelte ebenfalls und machte mich auf den Weg mitten durch meine immer noch starrenden Mitschüler zu meinem Platz neben Jimmy, der mir immer noch keine Aufmerksamkeit schenkte. Etwas verunsichert ließ ich mich neben ihn auf den Stuhl sinken, der unbequem war, aber dennoch hatte ich ihn vermisst. Frau Neuhauser räusperte sich, um die Aufmerksamkeit der anderen, wieder auf sich zu ziehen. Dankbar sah ich zu ihr, wie sie mit ihrem Unterricht fortfuhr.

Es war das erste Mal, dass ich nicht wusste, was ich tun oder sagen sollte, seitdem ich wieder frei war. Jimmy sah mich immer noch nicht an, sah zu Frau Neuhauser und tat so, als würde ihn der Unterricht brennend interessieren, dabei erklärte sie nur Grammatik als Wiederholung, die wir alle schon kannten und weitestgehend auch konnten. Eifrig kritzelte er nahezu jedes noch so unnütze Wort mit.

Unruhig wippte mein Fuß auf und ab. Ich fühlte mich fehl am Platz neben demjenigen, auf den ich mich fast am meisten gefreut hatte, war er doch schließlich der Grund gewesen, dass ich überhaupt umgekippt war und versucht hatte mir das Leben zu nehmen. Nein, das hörte sich falsch an. Ich gab ihm nicht die Schuld an meinem Selbstmordversuch. Ich war ihm dankbar, dass es so gekommen war, wie es eben gekommen war und ich jetzt, nach diesem Monat, gesünder war und nachdachte. Dafür war ich ihm unendlich dankbar. Zwar bahnte sich keineswegs Stolz an, wenn ich an das Geschehene zurückdachte, aber der Vergleich zwischen dem ersten Schultag und jetzt war es, für den ich ihm noch danken musste.

Aber wie, wenn er mich ignorierte?

So, tat er das? Ich war es doch auch gewesen, die bis jetzt noch kein Wort gesagt hatte, saß einfach nur stumm neben ihm und nestelte unruhig an meiner Kette.

"Olivia?", rief mich plötzlich Frau Neuhauser auf und riss mich aus meinen Gedanken, ob es nicht schon zu spät für ein Hallo in Richtung Jimmy war. Ich sah auf, bemekerte, wie sie mir den Stift für das Smartboard entgegen hielt. "Wanna write on the Smartboard?", fragte sie freundlich, fast schon zögerlich, als hätte ich auch den Kopf schütteln können. Stattdessen nickte ich und stand auf. Wieder sahen alle mich an. Egal!

"Eigentlich hasse ich es, alles anschreiben zu müssen", sagte sie leise und irgendwie vertraut zu mir, während ich mich zum Schreiben bereit machte. Ich lächelte.

"Und so etwas wird Lehrerin", erwiderte ich genauso leise, dass keiner uns verstehen konnte. Vielleicht war sie überrascht von diesem Spruch, den ich damals nie gebracht hätte, denn einen Lehrer ärgern, dafür war ich viel zu schüchtern gewesen. Vielleicht war ich aber auch zu weit gegangen. Ihre Gesichtszüge verwirrten sich, als ich das Blatt Papier vom Pult nahm worauf stand, was ich anschreiben sollte. Heute war es kein Diktat. Heute ein Tafelanschrieb zur Methodik einer Gedichtsanalyse auf Englisch. Erst dann lachte sie kurz.

"Ja, so etwas wird Lehrerin." Kopfschüttelnd über meinen Wandel lächelte sie mich noch kurz an. "Start, please."

"Yes", antwortete ich knapp und begann, während sie erklärte, was ich anschrieb. Alle anderen schrieben wiederum von mir ab. So verbrachte ich den Rest der Stunde vorne an der Tafel und beschrieb sie mit der wohl saubersten Schrift des ganzen Kurses. Wobei, ich glaubte eben bei Jimmy eine noch ordentlichere Schrift gesehen zu haben. Jimmy. Ich seufzte leise, was mir einen prüfenden Blick meiner Lehrerin einhandelte. Ich lächelte nur.

Zur nächsten Stunde kam ich pünktlich. Ich war sogar so früh, dass ich als erste vor Herrn Kösters Pult stand, meinen Zeichenblock in der Hand. So aufgeregt war ich schon lange nicht mehr. Eben war mir sogar so warm geworden, dass ich meine Strickjacke ausgezogen hatte und nun nur im T-Shirt dastand.

"Olivia, schön Sie zu sehen!", begrüßte er mich. Auch wenn er nahezu den gleichen Wortlaut wie Frau Neuhauser nutzte, war seine Begrüßung und sein Lächeln erfreuter, viel glücklicher.

"Ganz meinerseits", erwiderte ich gefühlt zu förmlich, doch ich wusste, Köster würde mich nicht missverstehen.

"Was macht die Blume?", fragte er nahezu beiläufig, fragte dabei doch eher, wie es mir ging.

"Sehen Sie selbst", forderte ich ihn auf. Mit leicht zittriger Hand nahm ich das Aquarell aus dem Block und streckte es ihm mit meiner linken entgegen, die Armunterseite nach oben. Seine Hand zuckte schon in Richtung das Blattes, doch er ließ sie wieder sinken, als ihm meine Narben und ganz besonders die eine große auffielen. Man konnte sehen, wieso ich nicht da gewesen war, konnte erahnen, dass ich versucht hatte, mich aus dem Leben zu schneiden und er wusste es. Er hätte es mir vermutlich schon nach meiner vertrockneten Rose prophezeien können, hatte er doch tiefer als jeder andere in meine Gedanken gesehen. Doch die Gewissheit, sich nicht getäuscht zu haben, versetzte ihm sichtlich einen Schlag. Mit einem Mal wich die ganze Farbe aus seinem Gesicht. Er räusperte sich und zwang sich zu einem Lächeln. Dann nahm er mir das Bild aus der Hand.

"Ich hatte es ja befürchtet, aber mich vor der Wahrheit verschließen wollen", sagte er ihm entschuldigenden Tonfall, sah mich nicht einmal mehr an. "Ich hätte etwas tun sollen."

"Nein, das war nicht Ihre Aufgabe und das wird es auch nie sein. Ich wusste es doch ebenfalls und hätte etwas tun sollen. Habe ich auch, aber der Griff zum Messer war nicht das Richtige. Sie trifft keine Schuld. Ganz im Gegenteil; Sie haben mir die Augen geöffnet", widersprach ich ihm. Kurz traf mich sein Blick. Auffordernd deutete ich auf meine Sonnenblume. "Es ist noch nicht perfekt, aber es ist der richtige Weg." Stumm betrachtete er es mindestens eine ganze Minute lang. Zufrieden nickend sah er zu mir auf.

"Sie haben Ihren Sonnenschein gefunden", stellte er fest. "Die letzten Wolken werden auch noch nachgeben."

"Das werden Sie", stimmte ich zu. "Hoffentlich", fügte ich noch gedanklich hinzu und sah zu Jimmy, der sich auf seinen Platz fallen ließ, ohne mich auch nur eines Blickes zu würdigen. Herr Köster reichte mir mein Bild und klopfte mir aufmunternd auf die Schulter.

"Viel Erfolg", wünschte er mir noch, dann begann er seinen Unterricht, sodass ich zu meinem Platz zurückging. 

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𝚂𝚞𝚗𝚏𝚕𝚘𝚠𝚎𝚛 𝙺𝚒𝚜𝚜𝚎𝚜Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt