𝟻 - 𝙳𝚎𝚛 𝙱𝚛𝚒𝚎𝚏

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Olivia,

allein, dass ich schon nicht weiß, wie ich dich am besten ansprechen soll, macht das Ganze hier noch verrückter, als es ohnehin schon ist. Ein "Hallo" oder "Hey" erscheint mir zu vertraut, wo wir eigentlich erst vier Stunden miteinander verbracht haben. Doch in diesen vier Stunde habe ich so viel über dich und du über mich erfahren, dass es mir vorkommt, als würden wir uns schon seit ewigen Zeiten kennen.

Wie auch immer.

Du fragst dich sicherlich, warum ich dir schreibe. Nun, ich wollte mich entschuldigen. Entschuldigen, dafür, dass ich dich mit dem Grund für mein Fehlen in der Schule so überrumpelt habe und dass ich mehr hätte tun sollen, um dir zu helfen. Denn, so kommt es mir seit Wochen vor, bin ich Schuld daran, was mit dir passiert ist und was du dir selbst angetan hast. Mein schlechtes Gewissen plagt mich und begleitet mich rund um die Uhr. Ich wünsche mir in jeder freien Sekunde, die Uhr zurück zu drehen und so einiges rückgängig zu machen.

Es tut weh, von deinen Eltern gehört zu haben, was passiert ist. Dass du mir selbst nicht davon erzählen konntest, ist klar, trotzdem glaube ich, hätte es mir auf irgendeine Weise geholfen, dich vorher noch einmal gesehen zu haben, bevor deine Eltern dich aus der Schule abgeholt und nach Hause gefahren haben. Und jetzt bist du noch weiter weg und vorerst unerreichbar.

Vielleicht hat es dir geholfen, was ich insgeheim hoffe, aber vielleicht auch nicht. So langsam beginne auch ich zu zweifeln, ob ich noch auf diese Welt gehöre, nach allem, was geschehen ist. Nicht nur, dass ich zu verschulden habe, was du getan hast, auch gibt es da noch so viel mehr, was du alles nicht weißt. Ich will versuchen es dir zu erklären, habe ich sehr wohl die Neugierde in deinen Augen aufblitzen sehen, als du vom meinem Aufenthalt in der Psychiatrie gehört hast:

Alles fing in der siebten Klasse an, wo manche sich noch fragen, was man denn in diesem Alter für Probleme haben kann, doch gerade um diese Zeit herum fangen Sachen wie Selbstzweifel, Angst, regelrechte Panik, Depression und all das an. Sachen, von denen man am liebsten nie etwas gehört hätte und sie am liebsten ignorieren würde, sie nicht einmal mit der Grillzange anfassen will.

Du musst wissen, mein Zwillingsbruder, Chris, und ich sind, nein, waren, unzertrennlich. Gut, welcher Zwilling ist das nicht mit seiner zweiten Hälfte? Eine zweite Hälfte, die deine Gedanken vervollständigt, in deinen Kopf schauen kann, praktisch dein Ersatzkopf ist, falls du deinen mal vergisst und in perfekten Synchronität mit dir durch die Gegend läuft, dir so ähnlich ist, dass selbst deine Eltern Probleme haben, euch auseinander zu halten. Immer den Gedanken in den Hinterköpfen zu haben, vielleicht kurz nach der Geburt vertauscht worden zu sein und eigentlich Chris und eben nicht Jimmy oder Jimmy und eben nicht Chris zu heißen, schweißte uns nur noch dichter zusammen. Wenn jeder ein eigenes Zimmer hat, man aber immer nur zusammen in einem schläft, dann verliert man auch noch das letzte bisschen Privatsphäre seinem Zwilling gegenüber.

Du kannst es wahrscheinlich nicht nachvollziehen, aber manchmal stellte ich mich unabsichtlich als Chris vor und er als Jimmy, was wir erst nach einiger Zeit bemerkten. Dann spielten wir halt eben die Rolle des anderen, doch dafür benötigte es keine Maske, keine Perücke, kein anderes Outfit, keine andere Stimmlage und auch kein anderes Verhalten. Er war ich und ich war er. Alleine waren wir kaum fähig ganze Sätze zu sprechen, da wir uns immer gegenseitig in den Redefluss fielen, um die Sätze des anderen zu beenden. Das war Gang und Gebe bei uns, doch eines Tages sollte sich all das ändern und meine Welt auf den Kopf stellen.

Wir spielten auf unserem Baumhaus, dass unser Vater schon, als wir noch ganz klein waren, für uns gebaut hatte. Es gab sogar einen recht gut abgedichteten Raum, indem wir ab und zu mal übernachteten. Ansonsten war das Baumhaus unser eigener Abenteuerspielplatz. Eines dieser Abenteuer schlug fehl. Ich kann mich nicht mehr erinnern, was wir gespielt haben, weiß nur noch, dass wir uns vor Lachen nicht mehr eingekriegt haben. Noch während ich lachte war Chris plötzlich nicht mehr neben mir auf der Plattform. Es dauerte ein paar Augenblicke, bis ich ihn am Fuße des Baumes liegen sah. Einige Sekunden, bis ich beim ihm war, aber Jahre, bis ich begriff, dass Chris nicht mehr neben mir stehen würde für den Rest meines Lebens.

Zwar war er nicht tief gefallen, dennoch hatte er sich das Genick gebrochen.

Schuldig - den eigene Zwillingsbruder ermordet zu haben, da ich das Spiel vorgeschlagen hatte, was wir spielten, als es geschah.

Das brachte mich das erste Mal in die Psychiatrie. Ich sprach gar nicht mehr, ich konnte einfach nicht. Irgendwann brachte ich es zu unvollständigen Sätzen und wartete auf Chris, der meine Sätze beenden sollte, doch nichts geschah. Das lieferte mich ans Messer aus, welches ich mir, als wäre es Teil meiner Abendroutine, über den Arm zog.

Schuldig - mich selbst verletzt zu haben.

Der zweite Aufenthalt folgte, als ich vor Blutverlust umkippte, so tief hatte ich mich geschnitten. Doch so tief, wie der Schmerz über Chris sitzt, kann keiner schneiden und so tief schwor ich mir nie zu schneiden. Ich hielt mein Versprechen und griff nie wieder zum Messer.

Aber der Schmerz und das schlechte Gewissen blieb und hielt mich vom Essen ab.

Schuldig - so viel abzunehmen, dass ich wieder dort landete.

Und jetzt das mit dir. Ich kann es immer noch nicht in Worte fassen.

Schuldig - dich im Stich gelassen zu haben.

Etwas in mir schreit danach, mir ein Messer zu besorgen, ein anderer Teil will einfach nur auf ewig die deutsche Sprache und alle anderen, die ich je gelernt habe, vergessen, ein anderer Teil will das Essen verweigern, nur der letzte Teil will weiterkämpfen wie bisher. Und ich stehe dazwischen und fühle mich von allen angezogen und gleichzeitig abgestoßen, wie ein Magnet, der ständig seine Pole änderte und nicht weiß, ob er zu Nordpol oder Südpol gehört. Bei mir gibt es jedoch vier Pole, was die Entscheidung noch schwerer macht.

Verzeih mir die vielen Worte, die keinen von uns weiterbringen werden.

Jimmy


Seufzend setzte er den Füller mit der schwarzen Tinte von dem Papier vor sich ab und ließ ihn sinken. Die letzten paar Worte glitzerten noch im Schein der Deckenlampe und hallten in seinem Kopf nach. Vielleicht, so hoffte er, würde ihn dieser Brief doch weiterbringen. Sich einfach nur auszusprechen, würde ihm schon genügen, um etwas von der Last, die ihm plötzlich wieder auferlegte worden war, zu nehmen. Es war das erste Mal, dass er seit dem knappen Monat, der es nun schon her war, an sie schrieb. Doch der Gedanke, dass sie den Brief nie bekommen würde, verringerte Jimmys Hoffnung auf Erleichterung so sehr, dass es ihm schwer fiel unter dem Schutt und der Asche zu atmen, die vor einem Monat gnadenlos auf ihn gekracht waren. So lange schon kämpfte er um seine Lebensgeister und den Willen, etwas an seiner Lage zu ändern, doch nichts ließ ihn die nötige Kraft dazu finden.

Melancholisch seufzend drückte Jimmy so kraftlos den Deckel seines Füllers auf den Stift, dass dieser wieder abfiel, sobald er ihn weglegen wollte. Beim zweiten Versuch gelang es ihm, den Füller zu schließen. Seine Hand kramte in einer Schublade unter dem Schreibtisch, an dem er saß, nach einem Feuerzeug. Mit dem fertig geschriebene Brief, den er nur noch zusammenfaltete, trat er hinaus auf die Terrasse, die von seinem Zimmer aus durch eine Türe erreichbar war. Die angenehme Temperatur des langsam enden Sommer und kommenden Herbstes schlug ihm ins erhitzte Gesicht. Mit zitternden Finger streckte er Brief und Feuerzeug von sich weg, um dann die kleine Flamme aufflackern zu lassen. Die Flamme senkte das Papier an und setzte es schlussendlich ganz in Brand. Mit fest auf das lodernde Papier gerichteten Blick schickte Jimmy den Brief wenigstens gedanklich an Olivia.

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𝚂𝚞𝚗𝚏𝚕𝚘𝚠𝚎𝚛 𝙺𝚒𝚜𝚜𝚎𝚜Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt