𝟿 - 𝚅𝚎𝚛𝚏𝚕𝚞𝚌𝚑𝚎𝚗 𝚘𝚍𝚎𝚛 𝚍𝚊𝚗𝚔𝚎𝚗?

98 33 65
                                    

•-----------------------------•

Schon zum zweiten Mal für heute ließ ich mich nun unbehaglich zu Mute auf meinen Platz neben Jimmy nieder. Wie zu erwarten, würdigte er mich auch jetzt keines Blickes.

"Dein Bild hat mich inspiriert", rutschte es mir heraus, ohne dass ich groß darüber nachgedacht hatte, etwas zu sagen. Gleichzeitig schob ich ihm meine Sonnenblume über den Tisch zu. Jetzt lag es unter seiner Nase und er musste es ansehen, da er nur auf die Tischplatte gestarrt hatte. Abwartend sah ich ihn an, hoffte inständig auf eine Reaktion. Doch seine Reaktion fiel etwas unerwartet aus:

Seine Hand griff nach meinem Handgelenk und er zog mich mit sich, als er aufstand. Ich hatte kaum Zeit ihn verwirrt anzustarren, da er mich schon weiter zog, hinter sich her und schnurstracks aus dem Klassenzimmer hinaus.

"Äh, Sie wissen schon-", hörte ich Herrn Köster uns noch hinterher rufen, dann fiel die Tür ins Schloss. Erst auf dem Flur ließ er mich los und sah mich so unerwartet direkt an, dass ich mich mehr davor erschrak, als vor seiner Entführung. Wie schon am ersten Tag waren seine Haare unsortiert und standen nahezu in alle Richtungen ab. Nervös fuhr er durch sie hindurch und deute sie etwas nach hinten, doch sie fielen ihm augenblicklich wieder in die Stirn.

"Wieso wolltest du mit keinem reden in dem ganzen Monat?", fragte er versucht wütend, doch seine Stimme brach. Etwas glitzerte in seinen Augen. Ich vermutete Tränen und einen dicken Kloß in seinem Hals, der ihn vom Reden abhielt und schwach wirken ließ. Ja, wirklich schwach sah er aus, wie ich erst jetzt bemerkte. Nichts von dem Stolz war noch an ihm zu erkennen. Sein Gesicht wirkte müde, seine Figur etwas dünner.

"Ich-", setzte ich an, doch unterbrach mich selbst. Ich hatte einfach keine Erklärung dafür. Er wusste, wo ich gewesen war, wusste wieso, aber ich hatte nicht mit ihm telefonieren wollen, was ich eigentlich hätte tun können. Genauso wenig hatte ich meine Eltern sprechen wollen oder an den Besuchswochenden sehen wollen. Mahina und all die Ärzte, Therapeuten und die anderen waren mir genug, fast schon zu viele Leute, die um mich herum wurschtelten und mit mir reden wollten. Am liebsten hätte ich kein einziges Wort gesagt, aber das schien unmöglich. Schlussendlich hatte Mahina mein Schweigen gebrochen, wofür ich ihr unendlich dankbar war. Jetzt gerade konnte ich sie gut gebrauchen, wo ich stumm im Flur stand, vor dem einzigen, der auch nur ansatzweise verstehen konnte, was mit mir los gewesen war, und einfach keinen Ton heraus bekam. "Ich wollte gar nicht reden", antwortete ich endlich wahrheitsgemäß, auch wenn ich sah, dass es ihn Anstrengung kostete, die Wahrheit herunterzuschlucken. "Mit niemandem." Er nickte nur. Verständnis schien in ihm aufzukommen. Verstand er mich wirklich oder zwang er sich nur dazu?

"Verstehe", murmelte er dann, zwar leise, aber überzeugend.

"Mahina hat mich zum Sprechen gebracht", sagte ich zusammenhangslos. Doch er erahnte hinter dem Namen ein gleichaltriges Mädchen, dass das Bett neben mir bezogen hatte.

"Du hast dort jemandem zum Reden gefunden, ich habe ihn vorher verloren", hörte ich ihn nuscheln. "Und dann kamst du, hast mich, wenn auch unfreiwillig, in dein Leben gelassen", wurde er lauter. "Und dann warst du einfach weg", schrie er schon fast seinen Schmerz heraus.

"Ich weiß."

"Nichts weißt du! Du warst die erste, mit der ich seit meiner letzten Entlassung freiwillig geredet habe und dann bist du einfach weg!"

"Glaubst du echt, ich wollte weg sein?"

Stille, nur unterbrochen von seinen heftigen Atemzügen. Nicht viel fehlte und Tränen würden sich aus seinen Augen lösen, mit denen er mich fest ansah.

"Nein", hauchte er tonlos. Ich nickte nur.

"Es tut mir leid."

"Nein, mir tut es leid! Ich hätte dich nicht anschreien dürfen", unterbrach Jimmy mich noch halb.

𝚂𝚞𝚗𝚏𝚕𝚘𝚠𝚎𝚛 𝙺𝚒𝚜𝚜𝚎𝚜Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt