Mein erster Gedanke galt der Flucht. Einfach weg von hier und so viel Abstand wie nur möglich zwischen mich und die atemberaubend schöne Frau zu bringen.
Mein zweiter Gedanke hingegen hielt mich davon ab. In meinem Kopf sah ich mich aufstehen und zu Evelyn herüber gehen. Ich würde sie anlächeln und ihr sagen, wie überrascht ich war sie hier zu sehen. Und dann würde ich ihr gestehen, dass ich mich dennoch über dieses Wiedersehen freute.
Natürlich tat ich nichts davon. Ich blieb an meinem Platz sitzen und beobachtete stattdessen wie Evelyns Blick kurz über die versammelten Gäste schweifte. Wenn sie mich gesehen hatte, dann wusste sie es extrem gut zu verstecken.
Im nächsten Moment schritt sie die wenigen Stufen herunter, die von der Bühne führten. Lea und Mark hatten mittlerweile die Tanzfläche verlassen und steuerten nun direkt auf Evelyn zu.
Diese lächelte herzlich, als sie das Brautpaar auf sich zugehen sah. Kurz darauf waren sie in eine Unterhaltung vertieft, dessen Inhalt mir verborgen blieb.
Vielleicht bedankten sie sich für ihr Spiel auf dem Klavier. Vielleicht sprachen sie über alte gemeinsame Zeiten. Marks und Evelyns Körperhaltung verriet mir nämlich, dass sie durchaus vertraut miteinander waren. Oder sich wenigstens nicht zum ersten Mal sahen.
Mark musste irgendetwas Lustiges erzählt haben, denn Evelyn legte den Kopf leicht in den Nacken und lachte. Augenblicklich schlug mein Herz wieder einen Tick schneller. Während unserer gemeinsamen Zeit hatte ich Evelyn nicht oft lachen sehen, erinnerte ich mich zurück und verbannte die Bilder sofort, die sich einen Weg in meine Gedanken suchten.
Um meine Nerven ein wenig zu beruhigen, wandte ich den Blick von den dreien ab. Niemals hätte ich erwartet, dass eine solch kleine Geste, einem Kraftakt gleichkommen würde.
Meine Sitznachbar hatte es inzwischen auf die Tanzfläche gezogen. Also stocherte ich ein wenig in meinem bereits halb geleerten Teller und versuchte Evelyns Präsenz in meinem Rücken so gut wie möglich zu ignorieren.
„Oh je, Mel." Zwei zierliche Hände legten sich plötzlich auf meine nackten Schultern und jagten mir damit einen halben Herzinfarkt ein. „Das hier ist meine Hochzeit und du sitzt hier wie ein Trauerkloß herum!"
„Du hast Glück, dass heute deine Hochzeit ist, sonst hätte ich mich sofort dafür gerächt, weil du mich so erschreckt hast." Ich sah sie mit einem vielsagenden Blick an und schenkte ihr ein freches, schiefes Grinsen.
„Bist du hier, um mich um einen Tanz zu bitten?"
Leas helle Augen funkelten, doch dann schüttelte sie den Kopf. „Keine Sorge, wir beide werden auf jeden Fall noch miteinander tanzen und dann zeigen wir allen, wie das die Profis machen." Sie lachte fröhlich auf, dann erklärte sie mir ihr eigentliches Anliegen. Mir schwante bereits Böses, noch bevor sie damit herausrückte.
„Mark und ich würden dir gerne jemanden vorstellen. "
„Das wird nicht nötig sein", hatte ich sagen und mich irgendwie aus der Situation herausreden wollen. Eine volle Blase zog meistens. Doch dann gewann die Vernunft und ich erhob mich. Ein leichtes Stechen im Fuß und der kühle Boden an den nackten Sohlen erinnerten mich an meine Fahrt hierher und wie viel Mühe und Nerven mich diese gekostet hatte. Ob das ein Zeichen von oben gewesen war, nicht zur Hochzeit zu kommen und somit Evelyn erst gar nicht zu begegnen?
Mit jedem Schritt, den wir uns Evelyn näherten, schlug mein Herz ein wenig fester gegen meine Brust. Ich war mir sicher, es fehlte nicht mehr viel, und alle Anwesenden würden hören wie laut es war.
Sie und Mark waren noch in ihre Unterhaltung vertieft, als wir direkt neben ihnen zum Stehen kamen. Das erste Mal seit sieben Jahren war ich Evelyn so nahe, dass ich nur meinen Arm ausstrecken müsste, um sie zu berühren. Gleichzeitig war sie so weit entfernt, wie noch nie zuvor.
Als sie unsere Anwesenheit bemerkten, sahen beide fast zeitgleich zu uns. Evelyns helle, blauen Augen trafen direkt auf meine und zauberten mir damit, ohne mir dem bewusst zu sein, ein Lächeln auf die Lippen. Auch Evelyn lächelte. Ein ruhiges, warmes Lächeln, das ich bereits so oft an ihr gesehen hatte.
Es war nicht zu verleugnen. Auch jetzt, mit Ende dreißig sah Evelyn atemberaubend schön aus. In den letzten Jahren schien sie kaum gealtert zu sein oder ich sah es einfach nicht.
„Evelyn, das ist die großartige Pianistin von der wir dir erzählt haben", stellte Mark uns beide unnötiger Weise vor und legte mir freundschaftlich einen Arm um die Schultern. Ich hoffte er spürte nicht, wie angespannt ich unter seiner Berührung war. Am Ende glaubte er noch, er wäre der Grund dafür.
„Melia", verließ mein Name Evelyns Lippen, bevor Mark das übernehmen konnte. Er war ganz vorsichtig und mit so sanfter Stimme aus ihrem Mund gekommen, dass ich innerlich erzitterte.
„Ihr kennt euch schon?", warf Lea überrascht ein und ich merkte, wie Marks Arm um meine Schultern verschwand.
„Wir kennen uns noch aus meiner Schulzeit", erklärte ich und wusste, dass Lea ohne ein weiteres Wort der Erklärung sofort verstand. Es hatte mich einige Überwindung gekostet, aber irgendwann hatte ich ihr von Evelyn und mir erzählt. Hätte ich damals Evelyns Namen erwähnt, stände ich jetzt sicherlich nicht hier.
„Kaum zu glauben, dass das schon acht Jahre her ist", ließ ich so beiläufig wie möglich fallen.
„Sieben", berichtigte mich Evelyn augenblicklich. Also hatte sie mitgezählt. „Es freut mich sehr, dich wiederzusehen, Melia." Sie schenkte mir ein weiteres Lächeln, das ich jedoch nicht erwiderte.
„Mich würde ja interessieren woher ihr beide euch kennt?", wandte ich meine Aufmerksamkeit bewusst Mark zu. Der schien ein bisschen überrumpelt, antwortete dann aber.
„Evelyn hat mich eine Weile durchs Studium geboxt, bis ich es schließlich doch aufgegeben habe." Er lachte verlegen auf und kratze sich an seinem perfekt frisiertem Haar.
„Soooo ...", meldete sich wieder Lea lautstark zu Wort, dessen Blick einmal zwischen Evelyn und mir gewandert war. „Da ihr beide euch bereits kennt, brauchen wir euch nicht mehr groß vorstellen. Und wenn ihr uns jetzt entschuldigen würdet, Melia ist mir noch einen Tanz schuldig."
Leas warme Hand umschloss meine und zog mich Richtung Tanzfläche. Mehr als bereitwillig ließ ich mich mitziehen. Weg von Evelyn. Weg von dem bedrückenden Gefühl, das mir die Luft zum Atmen nahm.
![](https://img.wattpad.com/cover/297392904-288-k490844.jpg)
DU LIEST GERADE
Scherbenherz - Teil 2
RomanceSieben Jahre nach ihrem tränenreichen Abschied kreuzen sich die Wege beider Frauen ein weiteres Mal. Ausgerechnet auf einer Hochzeit ...