Kapitel 6

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Am nächsten Tag stand Khadija wieder sehr früh auf. Die Tatsache, dass ihr Vater nochmal heiraten wollte, ließ sie sehr unruhig schlafen. Sie freute sich zwar für ihren Vater, aber sie hatte Sorgen und Ängste, dass die neue Frau vielleicht nicht gut für ihn war. Ihr Vater war kein Mann, der sich wegen Kleinigkeiten scheiden lassen würde. Er war sehr geduldig und hatte Verständnis für alles. Sie wollte nicht, dass eine Frau die Gutmütigkeit ihres Vaters ausnutzte. Sie wünschte ihm nur das aller beste. Er hatte in den vergangenen Jahren nicht einmal erwähnt oder angedeutet, dass er erneut heiraten wollte. Er hatte Khadija bei allem unterstützt und war immer für sie da. Es war nicht einfach für ihn, eine Tochter alleine großzuziehen, aber er wollte seiner Tochter auch nicht vermitteln, dass eine andere Frau jemals den Platz ihrer Mutter einnehmen könnte, nach dem Trauma, welches sie in ihrer Kindheit erleben musste.

Khadija betete und rezitierte ein paar kurze Suren in ihrem Kopf. In ihren Bittgebeten betete sie zu Allah, dass ihr Vater mit der neuen Frau glücklich wird und beide gut zueinander sein werden. Sie ging wieder viel zu früh in die Schule und setzte sich schonmal in den Klassenraum. Die Klassenstufen waren zwar anhand der Gebäude von einander getrennt, aber auch ohne diese Trennung konnte man immer gut einschätzen, was für einer Klassenstufe der Klassenraum gehörte. Die fünften und sechsten Klassen hatten oft noch Bilder, Deko oder kleine Briefkästen aus Papiertüten an den Pinwänden hängen. Bei den siebten und neunten Klassen hingen meist Plakate an den Wänden oder andere Wissenstexte und bei den neunten und zehnten Klassen blieben die Wände meist kahl. Neben dem Klassenfoto hing eigentlich nie was an den Wänden.

Khadija hatte genug Zeit sich die Plakate der Schüler genau anzusehen. Spätestens mit der Zeugnisausgabe am Freitag müssten die Klassen ihre Sachen wieder abhängen und mit nach Hause nehmen, da man nach jedem Schuljahr den Klassenraum wechselte. Die Zeit verging ganz schnell und eher sich Khadija versah, saßen bereits alle Schüler im Stuhlkreis und warteten darauf, dass sie ihre Geschichte weiter vorlas.

"Rayan, du hattest gefragt, was mit Kahiras Vater ist. Das erzähle ich euch heute. Kahiras Vater verließ die Familie als Kahira fast zehn Jahre alt war. Er verließ die Familie nicht im Sinne einer Scheidung, er ging als Student nach Europa und versuchte alles, um seiner kleinen Familie ein besseres Leben bieten zu können. Er lebte hier in Deutschland und hielt sich mit Aushilfsjobs über Wasser. Er lernte deutsch und studierte hier Informatik, was ein langer und harter Weg für ihn war. Er war ganz alleine in einem neuen Land und ohne jegliche Kontakte. Er versuchte von seinem verdienten Geld immer wieder was zur Seite zu legen, um es seiner Familie nach Marokko zu schicken. Er gab sich auch große Mühe immer wieder Geschenke zu schicken. Er konnte es sich nicht jedes Jahr leisten, die beiden in Marokko zu besuchen. Gerade als seine Frau krank wurde, hatte er oft überlegt sein Studium zu schmeißen und für sie da zu sein, aber Kahiras Mutter wollte das nicht. Wenn er in Marokko war, hatte Kahira oft mitbekommen, dass die beiden wegen des Studiums diskutierten. Er wollte es abbrechen und nach Marokko zurückkehren, um für seine Familie da zu sein. Sie wollte aber, dass er weiter macht und eines Tages wenigstens Kahira zu sich holen kann. Sie wusste selbst, dass sie nicht mehr lange hatte. Ihre Kräfte ließen immer mehr nach und sie wusste, dass es nur noch eine Frage der Zeit war. Vielleicht ein paar Jahre oder auch nur Monate, aber ganz sicher war sie, dass sie die Hochzeit ihrer eigenen Tochter womöglich niemals mitbekommen würde.

Kahira wollte für ihre Mutter immer eine gute Schülerin sein, was sie auch war. Sie schaukelte alles sehr gut, obwohl sie an manchen Tagen zugegeben sehr müde und erschöpft war. Sie verbrachte viel Zeit bei ihrer Mutter im Zimmer. Manchmal saßen sie stumm nebeneinander und kuschelten einfach. Die Tage verstrichen wie gewohnt. Bis zu dem einen Tag, den sie in ihrem Leben niemals vergessen würde.", Khadija legte eine kurze Pause ein, um die Dramatik der Geschichte zu unterstützen. "Machen Sie es nicht so spannend. Lesen Sie bitte weiter.", sagte der ägyptische Junge und Khadija nickte. Sie atmete kurz auf und versetzte sich selbst in diese Geschichte.
"Es war ein Sonntagmorgen und das Wasser war bis auf einen halben Liter aufgebraucht. Sie holte den Esel und machte sich wie gewohnt auf den Weg zum Brunnen. Es standen ein paar Leute davor, die darüber sprachen, dass es nicht mehr viel Wasser darin gab und es bald wieder regnen sollte. Das kam zwar selten vor, aber tatsächlich hatte Kahira das schon wenige Male erlebt. Die Menschen füllten ihre Kanister panisch mit dem Wasser und es reichte gerade so, dass Kahira einen Kanister füllen konnte. Sie legte ihn mühevoll in das Gestell ihres Esels, als sie sich wieder auf den Rückweg machen wollte. Da wurde sie von hinten so stark geschubst, das sie gleich zu Boden fiel und ihre Beine gleich zu schmerzen begannen. Auch ihre Handflächen waren durch den sandigen Boden schon aufgeschürft. Ein großer Junge hatte sie zu Boden geworfen und ihr unterstellt, das ganze Wasser genommen zu haben. Es kam zu einem Streit um ihren Kanister und der Junge nahm sich einfach das Recht raus, das Wasser aus ihrem Kanister in seinen zu füllen. Jegliche Versuche ihn daran zu hindern, endeten mit Kahira auf dem Boden. Er schubste sie weg oder schlug ihr gar ins Gesicht, bis ein fremder Mann vorbei kam und ihn anschrie, er solle das Mädchen in Ruhe lassen. Der Junge nahm seinen Kanister und rannte so schnell es ging und möglich war weg. Er hatte ihren Kanister zur Hälfte geleert und der Brunnen war für den Tag ausgeschöpft. Sie bedankte sich bei dem Mann und bot ihm was zu trinken an. Danach machte sie sich mit ihrem treuen Begleiter auf den Weg nach Hause. Sie gab den Tieren ihr Futter und lief bedrückt zurück zum Haus.

Sie ging mit dem halb vollen Kanister hinein und stellte ihn an die Seite. Sie krämpelte ihre Hose hinauf und schaute sich die Verletzungen an ihren Beinen an. Ihre Knie waren aufgeschürft und bluteten und auch ihre Schienbeine waren schon ganz blau. Sie tupfte alles sauber und zog die Hose wieder runter. Dann ging sie zu ihrer Mutter und setzte sich auf den Boden neben ihrer Matratze. <<Mama, es tut mir leid, ich habe heute nicht genug Wasser holen können. Der Brunnen ist leer.>>, sprach sie und nahm die Hand ihrer Mutter in ihre eigene. <<Ich werde morgen vor der Schule nochmal losziehen und schauen, ob es Wasser gibt, versprochen.>>, fügte sie hinzu. <<Du bist ein wundervolles Kind.>>, sagte ihre Mutter mit einer zitternden Stimme."

Die Pausenglocke klingelte und Khadija entließ die Schüler in ihre Pause, obwohl einige viel lieber weiter gehört hätten. Sie las selbst die nächsten Passagen in ihren Gedanken und bemerkte, dass sie noch nicht bereit war, den Teil für die Schüler vorzulesen. Sie versuchte sich innerlich zu beruhigen und rezitierte innerlich ein paar Suren aus dem Quran. Ein lautes Klopfen holte sie aus ihrer inneren Rezitation und im nächsten Moment stand Anas auch schon mitten im Raum. "Salam, wie geht es dir?", fragte er und setzte sich wie vor ein paar Tagen in den Stuhlkreis. "Alhamdulillah gut und dir?", stellte Khadija die Gegenfrage. "Auch gut Alhamdulillah.", sagte er und lächelte leicht. "Du wolltest mir noch sagen, was so besonders an mir ist.", fügte er hinzu und das Lächeln wurde breiter. "Ich weiß nicht wovon du redest.", log Khadija gekonnt und unterdrückte ihr Lächeln. "Du bist aber eine harte Nuss.", stellte er fest und lehnte sich nach hinten. "Das Leben ist hart, was soll ich dir sagen?", sagte Khadija und legte ihre Hände aufs Pult. "Ich hatte dir gestern eine E-Mail geschrieben, hast du sie ignoriert oder einfach nicht gelesen?", fragte Anas und man merkte ihm seine Unsicherheit an. "Ich habe sie nicht gesehen, ich war gestern verplant. Tut mir leid.", sagte sie der Wahrheit entsprechend und er nickte zufrieden. "Wieso schreibst du mir eigentlich per Mail, willst du das etwa vor Frau Chakir verheimlichen?", witzelte Khadija, wobei sie damit aus ihm herauskitzeln wollte, ob er schon verheiratet ist. Er hob seine beiden Hände und zeigte die Handrücken zu Khadija. "Kein Ring, keine Frau Chakir. Finde es hat Charme über Mail zu schreiben. Es erinnert mich an alte Zeiten, wie damals auf MSN oder Schüler VZ.", antwortete er und lächelte. Es war ein sehr herzliches Lächeln und seine braunen Augen strahlten. "Die guten alten Zeiten.", sagte Khadija nur und lächelte leicht. "Gibt es denn einen Herrn Masoudi?", fragte Anas und lehnte seine Oberkörper wieder nach vorne. "Den gibt es tatsächlich.", antwortete Khadija und lächelte. "Was ehrlich? Du bist verheiratet?", fragte Anas unglaubwürdig. "Ich meine meinen Vater.", gab Khadija nur knapp von sich und fing an zu lachen. "Wäre das denn so schlimm, wenn ich verheiratet wäre?", hakte sie nach. "Das verrate ich dir nicht. Ich bin froh, dass du es nicht bist. Ich wünsch dir was.", sagte er und war im Nu auch schon verschwunden. Kurz darauf kamen die Schüler auch schon zurück.

Sie wartete darauf, dass jeder zurück kam und fing dann an weiter zu lesen. "Kahiras Augen füllten sich mit Tränen, als sie das Erlebte am Brunnen Revue passieren ließ.", fing Khadija an, doch wurde von einer lauten Sirene unterbrochen. "Bitte verlassen Sie umgehend das Gebäude.", lallte die Sirene des Feueralarms immer wieder vor sich hin. Khadija schloss schnell die Fenster und beschrieb den Schülern, dass sie sich unten an der ersten Tischtennisplatte treffen würden. Sie nahm die Klassenliste mit und schloss den Raum anschließend ab. Wahrscheinlich hatte das Chemie-Projekt mit irgendeinem misslungenen Versuch den Feueralarm ausgelöst. Khadija zählte unten alle durch und wartete geduldig mit den Schülern auf die Feuerwehr. Es qualmte tatsächlich aus einem der Chemieräume.

Es gab keinen richtigen Brand, nur eine kleine Explosion, aber bis die Freigabe kam, dass man die Klassenzimmer wieder betreten durfte, war es bereits kurz vor 13 Uhr. Alle gingen zurück in die Klassen und Khadija entließ ihre Schüler, da es für die wenigen Minuten keinen Sinn mehr machen würde, weiter zu lesen.

Die Schüler verließen den Raum und Khadija öffnete ihr E-Mail Postfach, in dem tatsächlich eine ungelesene Mail von Anas schlummerte. Sie klickte drauf. "Salam Khadija, wie geht es dir so?", stand dort und sie schmunzelte. Sie hätte ihm etwas kreativeres zugetraut.

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