Am nächsten und letzten Tag der Projektwoche entschied sich Khadija beim Bäcker vorbeizufahren und verschiedene Backwaren für die Schüler zu kaufen. Sie nahm von zuhause ein paar Teller mit, damit sie die Sachen darauf legen konnte. Zudem nahm sie auch ein paar Papiertüten mit, damit die Schüler gegebenenfalls etwas mitnehmen konnten. Sie kaufte wahrscheinlich viel zu viel beim Bäcker ein und ging dann nebenan in den Supermarkt, um Säfte, Servietten und Pappbecher zu kaufen. Danach fuhr sie in die Schule. Sie bereitete ein kleines Buffet vor und legte alles für die Schüler parat. Sie waren alle sehr engagiert und interessiert, weshalb Khadija etwas zurückgeben wollte. Der Raum füllte sich und Khadija begrüßte alle. Sie hatte in ihrer Tasche noch die Rückmeldebögen, die sie den Schülern austeilen sollte.
"Die meisten von euch kennen das bestimmt schon. Das sind die Rückmeldebögen für das Projekt. Schreibt bitte ehrlich, wie es euch gefallen hat. Die Bögen könnt ihr selbstverständlich anonym abgeben. Ich werde sie dem Schulleiter dann vorlegen. Ich habe euch ein paar Backwaren und Säfte mitgebracht. Das soll eure Bewertung aber natürlich nicht beeinflussen.", sagte Khadija und lachte kurz.
"Ihr wart alle so engagiert und habt so gut zugehört, dass ich euch etwas zurückgeben wollte. Bedient euch reichlich und am Ende des Tages könnt ihr gerne noch was mitnehmen.", fügte sie noch hinzu. Sie bedienten sich alle am Buffet und frühstückten erstmal gemütlich zusammen. Sie unterhielten sich untereinander und ein paar füllten schon mal die Bögen aus. Es freute Khadija, dass alles so harmonisch ablief.
Erst nach der Pause las Khadija weiter.
"Kahiras Augen füllten sich mit Tränen, als sie das Erlebte unterbewusst Revue passieren ließ. Der Junge hatte ihr seelisch und körperlich wehgetan. Seinetwegen hatte sie nicht genug Wasser für ihre kranke Mutter holen können. Sie versteckte ihr Gesicht auf der Brust ihrer Mutter, die all ihre Kraft zusammen nahm, um ihre Tochter zu streicheln. Kahira konnte ihren sanften Herzschlag spüren und konnte ihre Tränen nicht mehr aufhalten. Es war, als wäre ein Staudamm hinter ihren Augen gerissen und eine Sturzflut an Tränen verließ ihren kleinen, verletzten Körper.
<<Bitte verzeih mir, dass du so viel tun musstest und dass ich nicht mehr die Kraft hatte, dir eine gute Mutter zu sein. Ich liebe dich und bin Gott dankbar, dass ich dich bekommen habe. Du bist ein wundervolles Kind und in jedem Gebet habe ich Gott gebeten, dass er dich immer beschützt. Ich spüre, wie meine Kraft immer weniger wird. Das Geld, was dein Vater geschickt hat, liegt drüben im Schrank, in einem kleinen Umschlag. Mach ihm keine Probleme. Sei weiterhin eine gute Tochter und kümmer dich um deine Schule. Ich liebe dich über alles mein Kind. Verzeih mir bitte.>>, danach sprach sie noch ihr Glaubensbekenntnis aus und schloss für immer ihre Augen. Kahira konnte nicht glauben, was geschehen war. Sie rüttelte wie wild an ihrer Mutter und hoffte, dass sie noch einmal ihre Augen aufschlagen würde, dass sie noch einmal ihre Stimmen hören konnte, aber das würde sie nie mehr. Der schwache Herzschlag war nicht mehr zu spüren. Sie war dabei, als die Seele ihrer Mutter ihren Körper verließ. Sie verbrachte Stunden damit zu weinen und konnte nicht realisieren, was geschehen war. Sie ließ die Hand ihrer Mutter, die mit der Zeit immer kälter wurde, nicht los. Sie versuchte sie immer wieder aufzuwecken, aber es war zwecklos. Ihre größte Angst war eingetreten.
Am späten Nachmittag zog sie die Decke über den Kopf ihrer Mutter und nahm sich etwas Geld, um es im nächstgelegenen Internetcafé für einen Anruf auszugeben. Als sie das Haus verließ, hörte sie die Tiere rufen, denen sie an dem Tag noch kein Wasser gab. Sie hatte nur das Futter hingestellt. Sie kam ihrer Pflicht nach und versorgte die Tiere, eher sie sich auf den Weg ins Café machte, was nur wenige Straßen entfernt war. Es war ein kleiner Shop, in dem ihre Mutter sie immer mitnahm, wenn sie ihren Vater anrufen wollte. Sie kannte den Betreiber nur flüchtig und fragte, wie viel ein Anruf nach Deutschland kosten würde. Er nannte ihr seinen aktuellen Preis und sie drückte ihm das Geld passend in die Hand. Er gab ihr das Telefon und sie tippte die Nummer ihres Vaters ein, die sie mittlerweile schon auswendig kannte. Sie hielt das Telefon ans Ohr und hörte es ein paar wenige Male klingelt, eher sie die beruhigende Stimme ihres Vaters zu hören bekam. Sie begrüßen sich und führten einen kurzen Smalltalk, bis er fragte, wie es ihrer Mutter ging. Ihre Augen füllten sich erneut mit Tränen und es fühlte sich für sie an, als würde sich eine Schleife um ihren Hals zuziehen. <<Mama ist heute verstorben.>>, bekam sie nur schwer raus. Sie gab sich große Mühe nicht in dem Internetcafé zusammen zu brechen. <<Ich buche den nächsten Flug und bin heute Nacht noch bei dir. Es wird alles gut.>>, antwortete er und versuchte seine Tochter zu beruhigen. Sie sprachen noch kurz weiter und legten dann auf. Kahira verließ mit gesenktem Kopf das Internetcafé. Sie wollte nicht, dass jemand sie weinen sah. Mit verschwommener Sicht lief sie nach Hause. Als sie die Tür öffnete, nahm sie die Stimme ihrer Mutter wahr und rannte trotz der verletzen Beine in ihr Zimmer, aber die Decke lag so auf ihrem Gesicht, wie sie sie zuvor platziert hatte. Augenblicklich brach sie wieder in Tränen auf und kauerte sich neben dem toten Körper ihre Mutter zusammen. Sie verlor jegliches Zeitgefühl und bekam gar nicht mit, dass sie Sonne schon lange Zeit untergegangen war. Sie weinte so viel, dass ihr Körper irgendwann nicht mehr fähig war, Tränen nachzuproduzieren. Sie hatte gedacht, dass sie das Kontingent ihrer Tränen verbraucht hatte. Sie saß den ganzen Tag neben ihrer Mutter und und hielt ihre mittlerweile eiskalt gewordene Hand. Sie starrte an die Wand und dachte an gar nichts. Ihr Kopf war leer und sie wusste nicht, was sie tun sollte.

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Kahira
JugendliteraturDie heiße Wüstensonne brennt tagtäglich auf Kahiras Haut. Im jungen Alter muss sie schon schuften und ackern. Ihr Weg da raus war hart und lang. Die junge Lehrerin Khadija erzählt den Schülern während der Projektwoche die Geschichte von Kahira und...