“Junge weibliche Patientin. Suizidversuch. Lorazepam-Intox mit Bewusstlosigkeit und beginnender Atemdepression. Piept den zuständigen Arzt an!”, ruft der Notarzt durch den Flur. Einer der Sanitäter schiebt die Trage über den kalten Krankenhausflur in einen hell erleuchteten Raum. Drei Pflegerinnen stöpseln sämtliche Kabel an unterschiedliche Geräte und dann an den abgemagerten Körper. Es dauert nicht lang, bis ein junger Mann in einem weißen Kittel den Raum betritt.
“Sie hat 25mg Tavor geschluckt vor ungefähr 45 Minuten. Die Atemfrequenz ist stabil. Die Sättigung ist trotz 2L Sauerstoffgabe auf 73 gesunken. Puls bei 44 und Blutdruck unverändert bei 90 zu 50. Pupillenreflexe sind verlangsamt.” Er beugt sich über das Mädchen und schaut sie an. Sein Herz beginnt zu rasen. Der erste Blick hatte ihn nicht getäuscht. Es ist tatsächlich sie. Um ihn herum wird es still. Alle warten auf weitere Anweisungen, doch der dunkelhaarige Mann steht wie erstarrt neben der Liege. Wut steigt in ihm auf und am liebsten würde er sie nehmen, kräftig schütteln und anschreien. Gleichzeitig bekommt er Angst. Panische Angst und es dauert einige Augenblicke, bis er endlich wieder klar denken kann.
“Ich lege einen Zugang und sie bekommt Flumazenil.” Blitzschnell liegt die Kanüle in dem blassen Handrücken. Ihre Finger sind eiskalt. Er kann sich nicht davon abhalten, sie einen Moment lang einfach nur festzuhalten und ihr die Wärme zu geben, die sie so sehr bräuchte. “Wir fangen mit 0,25mg an.” Er hält kurz inne und schaut auf das EKG und bemerkt den fehlenden Sinusrhythmus. “Nein, 0,5 pro Minute und den Sauerstoff auf 4L erhöhen.”
“Sie hatte keine Tasche dabei und in der Jacke waren keine Personalien zu finden.”
“Die brauchen wir nicht.” Die Schwester schaut ihn verwirrt an. “Ich kenne sie", gibt er nach kurzem Zögern zu. Er zählt Namen, Geburtsdatum und Krankenkasse auf und erwähnt die psychische Vorgeschichte, ohne sie dabei aus den Augen zu lassen. Der Notarzt, sowie auch die Sanitäter haben den Raum mittlerweile verlassen.
“Ich rufe einen anderen Arzt. Sie sollten sich da raushalten, wenn sie in Kontakt mit der Patientin stehen.”
“Nein!”
“Aber es wäre bess…”
“Nein!”, unterbricht er sie, “ich bleibe hier. Sie ist meine Patientin. Und ich krieg sie wieder auf die Beine. Ich muss.” Seine Stimme bricht, als er die letzten Worte ausspricht. Er schaut zu der Krankenschwester und sie verstummt augenblicklich. Schweißperlen bilden sich auf der Stirn des jungen Arztes und er sieht wieder zum EKG-Gerät. “Vitalzeichen?”
“Puls 40, Blutdruck 85 zu 40, Sauerstoffsättigung 85, Atmung regelmäßig aber sehr flach.”
“Scheiße. Flumazenil auf 0,75mg erhöhen.” Eine Weile stehen alle um das bewusstlose Mädchen und starren abwechselnd auf sie und das EKG. “Hängt zusätzlich bitte 1L NaCl an.”
“Wir holen schonmal ein Bett von der Intensiv.” Die Pflegerinnen rasen gleichzeitig aus dem Raum in unterschiedliche Richtungen. Nun ist er alleine mit dem bewusstlosen Mädchen. Seine Hand wandert an ihre Stirn. Er bemerkt den kalten Schweißfilm und streicht ihr über die Schläfe, bis seine Finger an ihrer Wange verharren. Ein innerlicher Kampf und die Angst um das Mädchen, sind ihm deutlich ins Gesicht geschrieben. Hinter ihm räuspert sich eine der jungen Frauen und er nimmt seine Hand von der blassen, eingefallenen Haut. Die Schwester kommt auf die beiden zu und hängt eine große Flasche mit klarer Flüssigkeit an den Infusionsständer.
“Ich mach das schon.” Die großen rauen Hände des Arztes nehmen der Pflegerin das Infusionsbesteck aus der Hand und sticht in die Flasche. Er lässt die Flüssigkeit durchlaufen und schließt sie dann an einen Drei-Wege-Hahn an.
“Der Sinusrhythmus ist wieder da”, erwähnt eine andere Krankenschwester und deutet auf den Monitor. Erleichtert atmet der junge Arzt aus. Sie scheint sich zu stabilisieren.
Die beiden jungen Schwestern haben mittlerweile ein Bett in das Zimmer gebracht und zu viert heben sie den immer noch bewusstlosen Körper von der Liege ins Bett.
“Ich werde angepiept. Sobald sich irgendein Wert verschlechtert, kontaktieren Sie mich sofort, verstanden?” Er wirft seiner Patientin einen letzten Blick zu, bevor er aus dem Raum verschwindet. Gegen den inneren Drang ankämpfend, sich das Mädchen zu schnappen und sie nie wieder aus den Armen zu lassen, joggt er durch die Flure des Krankenhauses.
Einige Minuten später liegt sie auf der Intensivstation in einem sonst leeren und dunklen Zimmer. Die Geräte um sie herum piepsen regelmäßig.
Eine Schwester kommt in das Zimmer und überprüft alle Vitalzeichen. Sie greift nach ihrem Telefon und tippt eine kurze Nummer ein.
“Was ist passiert?”
“Gar nichts, beruhigen Sie sich. Ihr geht es soweit gut. Sie stabilisiert sich und sollte demnächst auch aufwachen. Ich habe gemerkt, dass Sie ihr scheinbar sehr nah stehen und wollte Sie das nur wissen lassen.” Auf der anderen Seite der Leitung herrscht kurz Stille, dann ein hörbares Ausatmen.
“Danke. Stellen Sie die Infusion wieder auf 0,5mg. Ich schaue nach ihr, sobald ich hier fertig bin.” Die junge Pflegerin tritt wieder näher an das Bett heran. Sie legt ihre warme Hand an die knochige Schulter des Mädchens und streicht mit dem Daumen sanft über die bleiche Haut.
“Was hast du nur gemacht? Dein Körper muss ganz schön kämpfen, um das zu überstehen. Aber wir kriegen das wieder hin.”