Die Verwandlung

30 1 0
                                    

Endlich war die Kabinettssitzung vorbei. Sie hatten wie üblich einfach alles durchgewunken, die Umbenennung, die Autosubventionen, die Waffenexporte, die Steuererleichterungen für Tech-Investoren. Letzteres musste zwar erst noch durch den Bundestag, aber das war reine Formsache, dem Fraktionszwang sei Dank.
Kanzler Scholz war zugleich nervös und beschwingt, schon in Sorge ob der neuerlichen Demo, aber auch in Vorfreude auf seinen lang gehegten Plan. Er stand von dem elliptischen Tisch im Kabinettssaal auf und machte sich auf den Weg in seine Dienstwohnung in der 8. Etage.

•••

Oben angekommen machte er sich mit der Unterstützung seines Büroleiters daran, die teflonbeschichtete Verschalung seines Exoskeletts anzulegen. Er wolle noch ein wenig im Kanzleramtspark spazieren, teilte er ihm mit.
Vollständig verschalt, um den schädlich korrosiven Einfluss des sauren Nieselregens zurückzuhalten (sagte er), verließ er die Dienstwohnung und bestieg den Aufzug. Mit dem Hausausweis-RFID in seinem linken Handgelenk schaltete er an der Bedienkonsole des Aufzugs den Zugang zur "Geheim-Etage" 4 frei. Der Aufzug rasselte vier Etagen herab. Sieben, sechs, fünf, vier - es ertönte ein "Pling!" und die Tür des Aufzugs glitt auf. Er verließ die Aufzugkabine, ging den Gang entlang und betrat das Archiv. Er sah sich um, ob ihm auch wirklich niemand gefolgt war oder ob irgendein Referent sich im Archiv aufhielt, aber er war allein.
Scholz versuchte, sich an seine Anweisung zu erinnern. Rechte Spalte, vorvorletzte Reihe, hinten links, das müsste es gewesen sein. Er ging durch den Mittelgang bis fast ans andere Ende des langen Raumes und kurbelte die Rollregale zur Seite. Eigentlich hätte er es für erstaunlich befinden sollen, dass hier noch immer mit solch antiquierter mechanischer Technik gearbeitet wurde — aber Scholz war wie so viele hier schon zu lange im Behördenbetrieb, als dass er noch die allgegenwärtigen Anachronismen in der Verwaltung hätte wahrnehmen können.
Nachdem ihm also absolut nichts an Rollregalen komisch vorkam, nahm er drei große Kisten mit der Aufschrift "Transparenzbericht" aus dem Regal und lud sie auf zwei der Archivwagen, die im Mittelgang herumstanden.
Diese Beschriftung hatte er absichtlich anbringen lassen, damit auch ja niemand einen Blick hineinwerfen würde. Für so etwas interessierte sich im Bundeskanzleramt nämlich eigentlich niemand, und niemand wollte solche Akten anrühren aus Angst, ein personifizierter Transparenzbericht könne herausspringen, die Abteilung aufwühlen und — das war das grausigste — das Herrschafts-Knechtschafts-Verhältnis der Bürokratie in unangenehmer Weise in Richtung der Öffentlichkeit kippen. Der Inhalt der Kisten hingegen war selbst für Beamte schon deutlich interessanter; und war gar nicht so einfach herzustellen gewesen. Scholz hatte sogar uralte Connections reaktivieren müssen, so alt, man konnte sich heute kaum vorstellen, dass der Olaf von damals und der Scholz des Jetzt ein und dieselbe Person waren. In anderen Worten: bei der Akquise von für seine Zwecke notwendiger Technologie aus der geheimen Forschungsabteilung des VEB Kombinat Robotron kam es ihm zugute, dass er zu seinen Zeiten als stellvertretender Bundesvorsitzender der Jungsozialisten enge Beziehungen zu DDR-Funktionären unterhielt. (für letzteres: Quelle Wikipedia)

Zuletzt kurbelte er die Rollregale wieder zurück in ihre Ausgangsposition und schob seinen beladenen Archivwagen heraus aus dem Archiv und hinein in den benachbarten abhörgeschützten Ready Room des Kanzlers, der an den ebenfalls abhörgeschützten Sitzungssaals des Kristenstabs anschloss. Er verriegelte die Tür hinter sich, ging zur anderen Tür und verriegelte auch sie. Anschließend machte er sich daran, die Kisten zu öffnen.

In den Kisten verbargen sich zahlreiche Module, die er an seinem Exoskelett montieren konnte. Nachtsichtgerät, IR-Laser-Scanner, ein USV-Modul (für unterbrechungsfreie Stromversorgung), eine umgebaute Sofortbildkamera, die nun einerseits als Taktisches Stroboskoplicht und andererseits als Visitenkartendrucker fungierte. Er befestigte nach und nach alle Module an Picatinny-Schienen, die sich in der PTFE-beschichteten Verschalung seines Exoskeletts verbargen. Vollständig zusammengesetzt betrachtete er sich in der Spiegelung des halbdurchlässigen Fensters zum dunklen, da verlassenen Krisenstabsraum. Scholz war verwundert, dass sich seine zahlreichen Module tatsächlich so gut im Exoskelett verbergen ließen. Verbergen war allerdings relativ: das verschalte Exoskelett selbst war dann doch eher klobig. So klobig, dass die nachträglich vergrößerten Türen überall im Kanzleramt sehr hülfreich waren.

Zuletzt verband er den zentralen Dataport des Exoskeletts mit seinem Konnektor-Implantat am Hinterhauptbein. Nun war er vollendet. Der Kanzler schaute nochmals auf sein Spiegelbild. Er war nun nicht mehr Scholz. Er war mehr als ein Scholz, doch was genau er geworden war, wusste er noch nicht. Aber es war keine Zeit für Grübeleien. Heute hatte er Großes vor.

Mehr-als-Scholz setzte auf die Kisten wieder ihre Deckel und stellte seine Archivwagen in die leere Besenkammer der Etage, die unbenutzt war, seitdem der Kanzleramtsminister sich Staubsaugerroboter auf ÄMÄIZON bestellt hatte.

Dieses Mal ging er aber nicht wieder zum Aufzug, sondern zum breiten innenliegenden Nottreppenhaus. "Ziehen" stand auf der Tür, doch er kalkulierte kühl, dass eine Nottreppenhaustür (außer der letzten, versteht sich) immer nach innen aufgehen muss, und drückte die Tür auf. Kevin K. hatte bei seinem Anti-Terror-Anschlag die Rechnung ohne des Kanzlers neue Kortikalimplantate gemacht, die seine Kombinierfähigkeiten verstärkten. "Was ein Kevin", hätte er sich sicherlich gedacht, wenn der Kanzler etwas jünger gewesen wäre.

Der SCHOLZOMATWo Geschichten leben. Entdecke jetzt