Alles in mir wehrte sich dagegen, die Leiter hinaufzuklettern. Der Staub lag dort oben einen Meter hoch und die Spinnweben waren so dick wie ein blickdichter Vorhang.
Nur über meine Leiche!
„Chumani!" Die Stimme meiner Mutter hallte vom Dachboden zu mir wie ein Donnerschlag. Ich runzelte die Stirn. Wie immer, wenn ich diesen furchtbaren Namen hörte. Meine Freundinnen nannten mich Marie, so wie ich es mir wünschte. Ich seufzte leise. Würde ich sie jemals wiedersehen? Jetzt, wo das Schicksal uns in unterschiedliche Städte führte? Oder vergaßen sie mich schon bald?
Ich schloss für einen Moment die Augen, sog langsam die Luft ein. Es roch nach Staub und altem Holz. Als ob dieses Haus seit Jahren nicht bewohnt wäre, dabei hatten wir hier bis vor einigen Tagen gemütlich gelebt. Im Erdgeschoss tummelten sich Umzugskartons, draußen auf dem Rasen standen die Möbel. Bald hieß es Abschiednehmen vom Ort meiner Kindheit. Viele glückliche Stunden, aber auch weniger erfreuliche Zeiten hatten wir hier verbracht. Gedankenverloren strich ich über die kahle Wand. Eine angegraute weiße Fläche mit einer Vielzahl rechteckiger hellerer Flecken. Kleine Löcher wiesen darauf hin, wo die Nägel für die Bilderrahmen bis vor kurzem steckten. Die Rahmen, die meine Sporterfolge zeigten. Ob es am College in Baltimore einen Platz im Leichtathletikteam für mich gab?
„Chumani! Wo bleibst du nur?" Der Kopf meiner Mutter erschien in der Luke zum Dachboden. Ihre von grauen Strähnen durchzogenen Haare steckten in einem strengen Zopf, der ihr Gesicht kantiger erscheinen ließ. Dunkle Augenringe zeugten von Erschöpfung und doch ackerte sie ohne Unterlass weiter. Ich seufzte leise. Wieso half mein Vater nicht einmal mit? Hatte sich damit herausgeredet, dass er etwas für seine Arbeit an unserem neuen Wohnort zu erledigen hatte.
„Ich bin schon da, Mama." Stirnrunzelnd stieg ich die knarzende Ausziehleiter zum Dachboden hinauf, zu dem Ort, den ich seit meiner Kindheit mied wie die Pest. Seitdem ich mit dem Gesicht voran in einem riesigen Spinnennetz gelandet war. Misstrauisch linste ich in die hintersten Ecken, in denen tiefste Finsternis herrschte. Großartige Verstecke für Hunderte, wenn nicht sogar Tausende dieser achtbeinigen kleinen Monster, bei deren Anblick ich einen Juckreiz am ganzen Körper bekam. Dabei waren die Hausspinnen harmlos im Vergleich zu ihren Verwandten in der freien Natur. Taranteln, igitt. Wenn mir jemals eine von denen über den Weg lief, würde ich mit Sicherheit laut loskreischen und danach tot umfallen.
„Das sind die letzten Kartons, dann sind wir fertig." Mama wies auf sechs Umzugskartons, die neben der Luke standen. „Schaffst du die alleine?" Ich nickte abwesend. Bildete ich es mir nur ein oder war ihre Haltung verkrampft?
„Gehe du ruhig runter. Die kleinen Monster kommen bestimmt bald heim." Meine drei jüngeren Geschwister; Furcht, Angst und Schrecken. Einerseits liebte ich sie, andererseits beneidete ich sie um die Freiheiten, die unsere Eltern ihnen gewährten. Im Gegensatz zu ihnen wurde von mir verlangt, dass ich im Haushalt mithalf, die Schulaufgaben der Kleinen überwachte und meine Freizeit für sie opferte, statt etwas mit den Freundinnen zu unternehmen. Das Schlimmste daran? Der Umzug würde nichts ändern. Unser Vater erwartete von mir, dass ich freudestrahlend mit nach Baltimore kam, statt mir ein eigenes Leben aufzubauen.
„Danke dir, du bist ein Schatz." Meine Mutter kletterte die Leiter hinunter, die Bewegungen steif, schwerfällig. Sowie sie weit weg war, seufzte ich laut. Womöglich hatte Papa sogar recht, dass ich gar nicht erwachsen genug war, um zu entscheiden, was ich erreichen wollte. Selbst die Kurswahl am College schob ich vor mir her, wie so vieles. Es erschien mir einfacher, wenn meine Eltern für mich entschieden, was richtig war. Obwohl ich es in dem Moment meist nicht nachvollziehen konnte. Laut Papa war ich eine Träumerin, die genaue Vorgaben benötigte.
Ein Windhauch streifte meinen Nacken. Hatte meine Mutter ein Fenster geöffnet? Ich schaute mich suchend um. Die zwei kleinen Dachluken waren fest verschlossen, doch in der hintersten Ecke stand ein hoher Gegenstand, an den ich mich nicht erinnerte. Er war so groß wie ein schmaler Schrank, mit einem ergrauten Bettlaken abgedeckt, dessen Enden leicht flatterten. Sollte ich nachsehen? Fingen so nicht Horrorfilme an? Mit naiven Mädchen, die einem Geräusch oder etwas in der Art auf einem dunklen, spinnenverseuchten Dachboden folgten? Unschlüssig fummelte ich am Saum meines Shirts herum. Deutlich spürte ich einen Windhauch auf dem Gesicht. Leises Rascheln, wie von Blättern an einem Baum. Der sanfte Geruch von Flieder. Ich schlug mir vor den Kopf. Natürlich! An der Seite des Hauses wuchs ein uralter Fliederstrauch. Demnach war hinter dem Gegenstand ein Fenster, das hatte ich vom Garten aus gesehen. Es war besser, wenn ich es schloss, damit wir es nicht vergaßen.
Ich hielt weiter nach Spinnen Ausschau, als ich zum Ende des Dachbodens hinüberlief. Hier hinten roch ich den Flieder noch stärker. Ob bei unserem neuen Zuhause ebenfalls einer wuchs? Ich schloss die Lider, stellte mir ein rotes Backsteinhaus vor, inmitten einer grünen Rasenfläche und unzähligen Blumenbeeten, deren Blüten wie bunte Tupfen in einem Gemälde anmuteten. Seufzend öffnete ich die Augen. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, wie unser neues Haus aussah. Weil ich sauer war, dass meine Eltern mich zwangen, mitzukommen. Das Leben war nicht fair. Doch herumzumotzen, half mir auch nicht weiter. Sie hatten es nur zu meinem Besten beschlossen, versicherte Mama mir. Womöglich stimmte das sogar.
Ich quetschte mich an dem Gegenstand vorbei, schaute aus dem Fenster. Häuser, Gärten der Nachbarn, dahinter Wiesen, eine Straße, die sich durch das Umland schlängelte. Folgte man ihr, brachte sie einen zu den Black Hills. Den Schwarzen Bergen, wo Archäologen begierig Fossilien oder aber Reste der indianische Ureinwohner ausbuddelten. In meiner Kindheit hatte ich von Dinosauriern, der Urzeit im Allgemeinen geschwärmt, doch Papa hatte mich davon überzeugt, dass es keine Arbeit für mich wäre. Schon allein wegen meiner Angst vor Spinnen und Skorpionen. Klapperschlangen verabscheute ich ebenfalls. Der Umzug würde uns weit fort von hier bringen. Tränen sammelten sich in meinen Augen. Dies alles hinter mir zu lassen, fühlte sich an wie ein Stück meiner Kindheit zu verlieren. Ich war nicht bereit, erwachsen zu werden. Es bedeutete Verantwortung zu übernehmen, und sagte Papa nicht immer, dass ich dazu noch gar nicht in der Lage war und er deshalb für mich bestimmte, welche Entscheidungen ich zu treffen hatte? So wie er es auch für Mama tat?
Müde lehnte ich mich an das mysteriöse Objekt. Wieso war es abgedeckt? Wer würde es für den Umzug nach unten schleppen? Von der Größe her schien es zu schwer zu sein, als dass meine Mutter und ich dazu in der Lage wären. Ich zupfte nachdenklich an dem Laken. Staub hatte sich über die Jahre darauf abgelagert, war tief in das Gewebe vorgedrungen. Die Seite, die dem Fenster zugewandt war, wirkte obendrein vergilbt. Sollte ich nachsehen, was sich darunter verbarg? Voller Neugierde tastete ich den Gegenstand ab. Rillen, Verzierungen, keine glatte Fläche. Für einen Schrank besaß er nicht genug Tiefe. Doch was war es dann? Ich betastete ihn weiter. Ein Summen erklang, wie von einem großen Schwarm Bienen. Mein Magen verkrampfte, ich riss die Augen weit auf.
Bitte, bitte keine Bienen!
Ich wich zurück, verhedderte mich mit den Füßen im Laken, stolperte rückwärts und landete auf dem Hintern. Das Tuch fiel neben mir auf die Holzdielen, enthüllte das Geheimnis. Ein hoher Standspiegel mit einem breiten Rahmen, aus einem schwarzen Metall gefertigt. Etwas Vergleichbares hatte ich noch nie zuvor gesehen. Wie lange stand das Ding hier bereits? Das Haus war seit Generationen in der Familie. Mama hatte, soweit ich mich erinnerte, nie über diesen Spiegel gesprochen. Fasziniert starrte ich auf die Verzierungen. Muster, die aus einer anderen Welt zu stammen schienen. Oder von einem Emo entworfen wurden. Ich schüttelte grinsend den Kopf. Wenigstens hatte ich an der High School nicht zu einem dieser pechschwarz gekleideten Goths gehört, denen jeder aus dem Weg ging. Meine Eltern hätten vermutlich bei dem Anblick einen Herzinfarkt bekommen. Es hatte mich einiges an Überredungskraft gekostet, dass Papa mir erlaubte, Jeanshosen statt Kleidern oder Röcke zu tragen. Er sagte immer, dass es die Pflicht eines Mädchens war, sich ansehnlich zu kleiden. Stirnrunzelnd betrachtete ich mein Spiegelbild. Shirt, Hose, Sneakers. Für das Schleppen von Umzugskartons weitaus praktischer als ein Rock, mit dem man überall hängenblieb.
Der Umzug! Ich klatschte mir mit der flachen Hand vor die Stirn. Die Kartons trugen sich nicht von allein runter ins Erdgeschoss. Ich rappelte mich vom Boden hoch, klopfte mir den Staub von der Kleidung. Der Spiegel zeigte ein bodenständiges siebzehnjähriges Mädchen mit glatten mittelbraunen Haaren, die zu lange keine Bürste gesehen hatten. Gedankenverloren fummelte ich an einigen Kletten herum, sah meinem Spiegelbild tief in die moosgrünen Augen. Das Summen, das zuvor verstummt war, nahm an Stärke zu. Ich wandte mich ab, eilte zu den Umzugskartons. Je schneller sie unten waren, desto geringer war die Wahrscheinlichkeit von einer Biene gestochen zu werden. Ich vermutete, dass sie ihren Stock an der Rückseite des Spiegels gebaut und meine Tollpatschigkeit sie aus ihrer Ruhe gerissen hatte. Herumfliegen sah ich zu meiner Erleichterung keines dieser grausigen Insekten. Ich schnappte mir einen Karton, stieg vorsichtig die Leiter hinab. Noch eine Nacht, dann ging mein neues Leben los.
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Spiegelverkehrt
Science FictionEin Neuanfang steht bevor. Der Umzug in ein neues Leben. Fern von ihren alten Freundinnen soll sie den Erwartungen ihres Vaters gerecht werden. Doch erst räumt sie mit ihrer Mutter das Haus leer. Nur einige wenige Kartons stehen noch auf dem Dachbod...