Die Erde

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„Die Väter haben hier also das letzte Wort, wen die Töchter heiraten?" Ich zog die Nase kraus. Im Endergebnis bestimmten die Männer hier über die Frauen, so wie in der gesellschaftlichen Schicht, in der Papa verkehrte. Ein kleiner Teil in mir war enttäuscht, der Rest hatte es erwartet. Das Gespräch zwischen Tokalah und dem Vater Chenoas war respektvoll verlaufen. Dennoch hatte Letzterer ernüchtert gewirkt, dass mein Begleiter sich zurückzog. Dafür war ich unfreiwillig in den Mittelpunkt der Unterhaltung gerückt. Wieso wurde ich das Gefühl nicht los, dass der Ältere vermutete, dass ich die Ursache für den Stimmungswandel war? Dabei lag es nicht an mir.

„Nicht so ganz. Es ist ein Überbleibsel aus der archäischen Zeit meines Heimatplaneten, als die Menschen noch urtümlich lebten. Die jungen Männer, die eine Frau heiraten wollten, mussten erst mit dem Vater sprechen, um seine Zustimmung zu erhalten. Da die Väter nur das Beste für ihre Töchter wollten, akzeptierten sie nur diejenigen, die in der Lage waren, eine Familie zu ernähren und zu beschützen. Wenn mehrere Männer eine Frau begehrten, mussten sie obendrein um sie werben, ihre Zuneigung gewinnen. Allerdings hatten die Mütter ein großes Mitspracherecht und haben ihren Kindern, egal ob Tochter oder Sohn, so manche Ehe ausgeredet", erklärte Tokalah in einem geduldigen Tonfall. Jede Frage, die ich stellte, beantwortete er, ohne zu zögern und gewissenhaft. Mit dem Ergebnis, dass ich seine Gesellschaft immer mehr genoss und ihn wie einen alten Freund behandelte.

„So wie deine Mutter dir?" Ich schlug mir die Hand vor den Mund. „Entschuldige, ist mir so herausgerutscht."

„Kein Problem." Er grinste breit. „Chenoa ist hübsch. Das hat mich von Anfang an in den Bann gezogen, gegen den Willen meiner Mutter und unserer Clanführerin. Beide sind davon überzeugt, dass sie den Aufgaben, die sie an meiner Seite erwartet hätten, nicht gewachsen ist. Zu ungeduldig, zu sehr auf ihr eigenes Leben fokussiert." Er seufzte leise. „Deswegen hat sie sich vermutlich für jemand anderes entschieden, weil sie als meine Ehefrau nicht der Mittelpunkt meines Lebens wäre."

„Sie ist wunderschön." Im Gegensatz zu mir. Sein verträumter Blick versetzte mir einen kleinen Stich. Ich spielte gedankenverloren mit einer Haarsträhne. Seit wann interessierte es mich, ob ein Mädchen hübscher war. Ich benötigte ein Thema, dass mich ablenkte. „Magst du mir mehr über deinen Heimatplaneten und das Leben dort erzählen?" Womöglich erfuhr ich so, wie weit ich in der Zukunft gelandet war und wieso die Nationalitäten nicht mehr miteinander vermischt waren.

„Natürlich. Ich dachte schon, du fragst nie." Sein Grinsen wurde noch breiter, wenn das überhaupt möglich war. „Hier entlang bitte." Er wies auf einen der seltsamen Fahrstühle, die sich nicht nur nach oben oder unten bewegten, sondern auch in der Waagerechten. Ungemein praktisch, wenn man keine Lust hatte, kilometerweit zu laufen, nur leider nicht auf allen Ebenen vorhanden, wie mein Begleiter mir erzählte.

„Gehen wir jetzt zu eurem Clanoberhaupt, wie deine Mutter es dir gesagt hat?"

„Nein." Er schaute kurz auf sein breites Metallarmband, in das ein Minicomputer eingearbeitet war. Ich bezeichnete es als Armband mit Smartphonefunktionen. Oder denen eines Tablets. Ob diese Bezeichnung es wirklich traf, da tappte ich im Dunkeln, so wie bei vielem anderem auch. Er zog die Stirn kraus, schürzte die Lippen. Geduldig wartete ich auf seine Antwort. „Meine Mutter lässt einen gesonderten Test laufen. Das wird sich noch ein wenig hinziehen. Daher habe ich genug Zeit, um dir etwas Anderes zu zeigen." Die nächsten Minuten verbrachten wir schweigend. Ich ließ mir die bisherigen Informationen durch den Kopf gehen. Es kam mir so vor, als ob die Menschen mit einem weitaus größeren Respekt einander behandelten, als was ich in meiner Epoche kennengelernt hatte. Was, wenn die Zerstörung der Erde einen eher positiven Einfluss auf die Menschheit hatte?

„So, da wären wir." Tokalah drückte einen Schalter. Die kolossale Tür, vor der wir standen, glitt geräuschlos auf.

„Du willst mich wohl auf den Arm nehmen!" Ich drehte mich einmal um meine eigene Achse, traute meinen Augen kaum. Deckenhohe schwarze Metallregale, wohin ich schaute. Bücher reihten sich hundertfach, nein tausendfach aneinander. Wenn ich jetzt noch in der Lage war, sie zu lesen, brauchte Tokalah mir nur ein Bett hier aufzustellen. Hier fand ich gewiss Antworten auf alle meine Fragen, selbst auf die, von deren Existenz ich bisher nichts wusste.

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