Zu Hause

93 21 18
                                    


Zitternd stand ich vor dem Mann, den ich mein ganzes Leben kannte. Er schrie weiterhin auf mich ein, drohte mit Hausarrest und Zwangsheirat. Warum war ich nur nicht auf dem Raumschiff geblieben? Tränen liefen über meine Wangen. Gelähmt vom Geschrei harrte ich stumm aus, bis es weiterzog wie ein Gewitter.

„Wage es nicht, mich weiter zu belügen! Deine Mutter war krank vor Sorge um dich. Und du? Du hast dich versteckt, dich vor der Arbeit gedrückt, die sie ganz allein machen musste. Was bist du nur für eine undankbare Tochter!" Ich zog den Kopf ein. Er hatte recht, Papa hatte völlig recht. Ich hatte Mama im Stich gelassen. Meine Lungen schienen zu krampfen, sperrten die Atemluft aus. Ich schnappte nach Luft, einzelne Schluchzer klangen mit.

„Diese verdammte Rothaut hat uns das alles eingebrockt. Ich musste das Geschäftsessen deinetwegen verschieben, du törichtes Ding. Du hast Schande über deine Familie gebracht. Aber jetzt ziehe ich andere Saiten bei dir auf. Einen Collegeabschluss kannst du vergessen. Du wirst den Sohn eines guten Freundes von mir heiraten." Ich öffnete den Mund zum Protest, wurde sogleich wieder niedergeschrien. „Ich will nichts mehr von dir hören. Frauen benötigen keine Bildung, sonst kommen sie noch auf die Idee, dass der Ehemann sie im Haushalt unterstützen muss. Absoluter Schwachsinn!", wetterte er. Ich machte mich so klein wie möglich, warf einen Blick zum Polizeiauto, das hundert Meter weiter parkte. Tokalah, dessen Hände gefesselt waren, schaute traurig vom Rücksitz zu mir. Ich durfte nicht zulassen, dass sie ihn wie einen Verbrecher abführten. Erkannten sie nicht, dass seine Waffen, die sie ihm mit Gewalt abgenommen hatten, viel zu fortschrittlich für unsere Zeit waren? Ich straffte den Rücken. Ich musste etwas unternehmen, egal wie schwer es mir fiel.

„Papa, er hat mich nicht entführt, sondern beschützt. So glaube mir doch", flehte ich den Mann an, dessen Gesicht fleckig vor Wut war. Die Adern an seinen Schläfen traten deutlich hervor und ich glaubte, sie pochen zu sehen. „Ich tue alles, was du verlangst, doch sage den Polizisten bitte, dass es sich um eine Verwechslung handelt. Tokalah würde mir nie etwas tun." Neue Tränen, heißer als jene zuvor, rannen mir übers Gesicht. Mein Magen krampfte, zwang mich fast in die Knie.

„Er ist nur eine dreckige Rothaut. Ungeziefer, das unsere Vorfahren hätte vernichten sollen. Es wäre nicht schade um sie, um keinen von ihnen." Er spuckte vor mir aus auf den Boden. Mamas Worte kamen mir wieder in den Sinn. Ihre beste Freundin, die ihr das Leben gerettet hat und deren Namen ich trug.

„Was ist mit der Indianerin, die damals bei dem Unfall starb. Sie hat Mama beschützt", warf ich ein, meine Stimme zitterte.

„Das einzig Nützliche, was die Schlampe in ihrem Leben getan hat", spie er verächtlich aus. „Deine Mutter hat leider darauf bestanden, dich nach ihr zu benennen. Ich hätte das niemals zulassen dürfen." Er packte mich grob am Arm. „Komm mit. Wir haben in Baltimore deine Hochzeit zu planen." Ich kämpfte gegen seinen Griff an. Schrie. Weinte. Wollte zu Tokalah, ihn aus dem Wagen befreien. Doch mein Vater zerrte mich hinter sich her, quetschte mit seiner großen Pranke meinen Oberarm so hart, dass ich kurz Sterne sah. Es war zwecklos. Er war so viel stärker, so viel brutaler. Ich ließ jeglichen Widerstand fahren, selbst als er mich auf die Rückbank unseres Autos stieß, gab ich keinen Ton von mir. Eine alles verschlingende schwarze Leere breitete sich in meinem Innern aus. Wieso hatte ich nur darauf bestanden, zu diesem grausamen Mann zurückzukehren? Warum hatte ich Tokalah, der mich immer beschützt hatte, in dieses Elend mit hineingezogen? Ich schloss die Augen und hoffte, nie wieder aufzuwachen.

Schweißgebadet fuhr ich hoch. Metallene Wände, kein Fenster, das einem die Sicht nach draußen gönnte. Mein Herz pochte so hart, dass ich fürchtete, ich bräuchte einen Arzt. Eine Ärztin, die nicht weit von hier ihr Quartier hatte. Die sich in diesem Moment von ihrem Sohn verabschiedete. Ich schüttelte mich, lief auf wackeligen Beinen ins Badezimmer. Mühsam schälte ich mich aus der Kleidung, die an mir klebte wie eine zweite Haut. Ich kletterte in die Dusche. Das Wasser prasselte sanft hinunter, massierte meine völlig verkrampften Nackenmuskeln. Fahrig wusch ich den Angstschweiß ab, atmete den angenehmen Duft der Seife ein. Der Traum war zu real. Eine Warnung vor dem, was mich erwartete, wenn ich heute durch das Portal schritt. Höchstwahrscheinlich ohne den Hauch einer Chance, hierher zurückzukehren, sollte sich mein gestern gefasster Entschluss als falsch erweisen. Kopfschüttelnd trocknete ich mich ab, zog mir die am Vorabend rausgelegte Kleidung an. Mein Puls hämmerte bis in meine Ohren. Ich erreichte den Raum, wo laut Tokalahs Aussage das Portal lagerte. Die Türen glitten zur Seite, gaben den Blick auf den riesigen Spiegel frei. Er hatte im hohen Präriegras gelegen, als die Lakota ihn fanden. Daher hatte ich ihn in meiner Verwirrung übersehen. Doch nun stand er vor mir. Poliert. Von Staub und Gräsern befreit. Angestrengt lauschte ich. Die Gespräche um mich herum verstummten. Menschen, die sich von Tokalah verabschiedeten, traten respektvoll zur Seite.

„Bist du bereit?" Er heftete den Blick auf mein Gesicht, in dem noch immer die Schrecken der vergangenen Nacht meinen inneren Kampf für alle sichtbar machten.

„Ich bin bereit", erwiderte ich und ergriff seine Hand. „Doch nicht, um durch das Portal zu gehen. Deine Mutter und Großmutter haben recht. Die Gefahren sind zu groß. Nicht, dass wir womöglich statt auf meinem Planeten an der Stelle aufschlagen, wo ursprünglich eure Erde kreiste. Auf eine Ankunft im Nichts kann ich verzichten", scherzte ich, um mich davon abzulenken, dass ich die letzte Möglichkeit, jemals Mama und die drei kleinen Teufel wiederzusehen, fahren ließ. Tokalah runzelte die Stirn, versuchte, hinter den Sinn meiner Worte zu kommen.

„Du bleibst hier?" Verwirrung. Verstehen. In seinen Augen leuchtete es auf, seine Lippen verzogen sich zu einem breiten Grinsen. Er zog mich an seine Brust, suchte abermals nach Bestätigung seiner Erkenntnis.

„Ja, ich bleibe hier, wenn es dich nicht stört." Selbst wenn es ihm missfiel, meine Wahl war gefallen. Hier, an Bord des Raumschiffs wurde ich geschätzt, glaubte man an mich und meine Fähigkeiten. Warum sollte ich dies für eine ungewisse Zukunft eintauschen?

„Mein Herz ist froh", murmelte Tokalah und beugte sich ein wenig zu mir runter. Ich überbrückte den letzten Abstand, drückte meine Lippen auf seine. Erst sanft, dann fordernd offenbarten wir dem jeweils anderen unsere Gefühle füreinander. Überraschtes Gemurmel, doch auch erleichtertes Ausatmen verschmolz im Hintergrund. Die Zuschauer kümmerten mich nicht. Ich war endlich in meinem Zuhause angekommen. Alles nur dank eines Portals, das auf dem Dachboden meines Elternhauses verstaubte und mich in eine fremde Dimension schickte, mich vor einer mir diktierten Zukunft bewahrte. Wir lösten uns schließlich, schenkten einander ein Lächeln voller Zuneigung. Nur hier, bei Tokalah, war ich zu Hause.


***********************************ENDE**************************************

SpiegelverkehrtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt