-1- Poetisch in den späten Stunden

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21.05.
0:37 h
Song: If you could see me now - The Script

Liebe Mom,

Ich habe zuerst ewig überlegt wie ich den Brief anfangen soll, weil ich nicht wusste, ob ich dich nach den Geschehnissen überhaupt noch Mom nennen darf. Und weil Mom ein herzlicher, lieb gemeinter Begriff ist, und nichts in der Beziehung zwischen uns war auch nur annähernd herzlich oder lieb. Letztendlich habe ich mich jedoch für Mom entschieden, weil es persönlich rüber kommt und dieser Brief ja auch eher persönlich werden soll. Ich weiß nicht mal, wieso ich überhaupt hier sitze und meine Gedanken an dich und die anderen verschwende, wenn ihr womöglich nie wieder etwas zutun haben wollt. Ich weiß auch nicht, ob ich mich in dem Brief entschuldigen soll. Ich habe keine Gründe um mich entschuldigen zu müssen, doch ihr fühlt euch besser, wenn ich mich entschuldige, stimmt's?
Da, die nächste Frage: wieso stelle ich Fragen, die nie beantwortet werden? Noch ein Frage. Ich hätte mir, bevor ich meinen Wirrwarr aus Gedanken zu Papier bringe, etwas sammeln müssen, dann würde dieses Gekritzel wenigstens etwas Sinn ergeben. Aber was ergibt in unserer Welt schon noch Sinn. Ergibt es Sinn, dass sich ein Kind fragt, ob es seine Mutter Mom nennen darf? Ich stelle schon wieder fragen, tut mir leid. Und ich entschuldige mich. Oh Gott, wohin führt dieses imaginäre Gespräch?
Es ist mittlerweile nach Mitternacht und draußen ist es stockfinster. Ich schlafe in letzter Zeit immer mit geöffneter Gardine, damit die Ampeln von draußen in mein Zimmer scheinen. Meine Wand leuchtet dann immer rot oder grün. Mir gefällt's. Und früh, das hab ich zumindest immer gehofft, leuchtet die Sonne herein und ihre Strahlen kitzeln meine Nasenspitze, sodass ich leichtfüßig aufspringen und ins Badezimmer hüpfen werde. Falsch gedacht. Denn selbst die Sonne steht später auf als ich. Dumme Schule.
Wieso schreibe ich das alles? Wenn dich oder euch auch nur ein winziges Detail meines Lebens interessiert hätte, hättet ihr doch sicher nachgefragt. Wenn es euch interessiert hätte, ob ich nachts noch einmal heimlich aufstehe um die Gardine, die von dir oder Dad bereits zugezogen wurde, wieder aufzuziehen. Und wie ich danach noch kurz die Straße beobachte. Die Leute, die so spät noch unterwegs sind. Die Autos, die auf dem Heimweg sind, oder zur Nachtschicht aufbrechen. Oder an einen See fahren um sich zu ertränken. Huch, Selbstmordgedanken. Ja Mom, ich habe mir tatsächlich Gedanken um dieses Thema gemacht. Dein kleines Mädchen hatte nämlich keinen Bock mehr auf dieses Gelaber. Dieses Gelaber von wegen, die Welt sei sicher. Keine Gefahren. An jeder Ecke stehen grinsende Einhörner, die schweifwedelnd auf Touristen warten, um sie ins Regenbogenland zu reiten. Denn den naiven Kleinkindern kann man ruhig einbläuen, sie brauchen sich keine Sorgen um ihre Zukunft machen, es würde alles glatt gehen und irgendwann stehen wir alle mit Abitur in der einen Hand und dem Führerschein in der anderen vor unserer Luxusvilla mit Pool und Nachbarn, die zu Grillpartys einladen. Dazu wird der perfekte Ehemann serviert, mit dem man dann perfekte kleine Wesen fabrizieren kann. Perfekte Welt.
Doch je älter kan wird, desto mehr stürzt dieses Traumland ein. Und irgendwann steht man dann in den Trümmern und weiß nichts mit sich anzufangen. Ja, wo bleibt dann die ein oder andere gute Fee? Sie wird nicht kommen. Märchen sind auch bloß kindgerechte Lügengeschichten.
In den späten Stunden werde ich immer ganz poetisch, huch.
Je älter man wird, desto mehr begreift man, dass die eigenen Probleme nicht die einzigen sind, um die man sich kümmern muss. Beste Freunde verrecken an Selbstzweifel und man versucht alles mögliche, sie glücklich zu stimmen. Und bemerkt nicht, wie tief man selbst in diesem Loch sitzt. Bis es zu spät ist. Und auch du Mom, auch du hast bis zuletzt dran geglaubt. "Pubertät." Doch manchmal löst ein Wort nicht Berge von Problemen auf. Und Erziehungsratgeber, wie sie sich bei uns in den Regalen stapeln, helfen dir auch nicht.
Wieso bist du nicht einfach zu mir gekommen wenn ich dich gebraucht habe, und hast mit mir geredet? Meine heile Welt ist zusammen gebrochen, doch das schrei ich doch nicht herum, bis mir irgendwann mal jemand zuhört. Als ich dich gebraucht habe, als ich innerlich nichts mehr als ein seelisches Wrack war, in diesen Momenten warst du nicht da. Und das kannst du nicht wieder gut machen.
Ich habe mich auch oft gefragt, ob ich dich liebe. Also wirklich liebe, bedingungslos und so. Aber mit der Zeit war ich es satt, immer um Liebe zu betteln und dann doch keine zu bekommen. Doch kann man sich selbst lieben? Ich könnte es nicht, denn ich war unglaublich selbstkritisch. Vielleicht ist es dir in den 17 Jahren, die wir zusammen verbracht haben (wow, ich hab es tatsächlich 17 Jahre ohne Liebe ausgehalten.), ja aufgefallen. Irgendwann kam ich dann in das Alter, in dem ich zu schwärmen begann. Für Jungs. Ich habe dir nicht erzählt, welchen Jungen ich gerade heiß fand oder welcher der langweiligste Streber des Jahrgangs war, dazu hatten wir uns schon zu weit entfernt. Wir waren sowas wie eine kaputte Familie. Wenn ich jemals Kinder bekommen hätte, ich hätte ihnen unendlich viel Liebe geschenkt. Du kannst nicht einfach so ein Wesen in die Welt setzen und warten bis es groß genug ist um dir ein Haus zu kaufen. Ohne Liebe läuft nix Mom, das hast du anfangs auch begriffen. Liebe ist das Benzin des Lebens. (Ich sollte Poet werden. - Ich hätte Poet werden sollen, sorry.) Doch du warst damals schon kaputt und musstest die Liebe, die du gespart hattest um dich am Leben zu halten, jetzt auch noch teilen. Mir etwas abgeben. Doch das hat nicht lang für uns beide gereicht, da hast du sie dir lieber zurück genommen. Und Dad war schon immer nur das dritte Rad am Wagen. Liebe hatte er nicht mal für dich übrig, wie dann für mich. Und da fragen sich die Leute, wieso es in dieser hochmodernen Welt so viele Suizidgefährdete gibt. Irgendwann habe ich mich dazugezählt. Ich hatte keine Freunde (du hast mir nicht beigebracht wie man Liebe teilt!), schlechte Noten, keinen Grund zu leben. Für dich und Dad würde es eine Erleichterung sein, habe ich mir immer gedacht. Ich hoffe, ich lag mit diesem Gedanken richtig, denn jetzt kann ich nichts mehr rückgängig machen. Soll ich mich entschuldigen? Hast du dich jemals entschuldigt? Doch es gibt da so ein Sprichwort. Ich hab's vergessen, aber man soll anderen nichts zufügen, was man selbst nicht zugefügt bekommen werden will oder so. Jedenfalls, ich hatte mir in 17 Jahren auch mal eine ehrlich gemeinte Entschuldigung gewünscht. Vielleicht kommt dir ja jetzt etwas Herzliches über die Lippen. Ich bin trotzdem noch nicht bereit, mich zu entschuldigen. Muss ich wohl noch einen Brief schreiben.

-July.

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