Die Schule

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„Na komm Bärchen, geh doch mal rüber zu deiner Klasse", ermunterte Robin ihren zehnjährigen Bruder. Im Morgengrauen des nächsten Tages die Fünfzehnjährige und ihre Freunde in einem großen Halbkreis bei den runden Bänken auf der Mitte des Schulhofes, scherzten, unterhielten sich über alles Mögliche und ein paar Schüler schrieben sogar noch die letzten Hausaufgaben für die anstehenden Unterrichtsstunden voneinander ab. Der Einzige, der nicht so ganz zu der illustren Runde pubertierender Mittelstufenschüler passte, war der kleine Fünftklässler, der in seiner dunkelblaue-orangenen Softshelljacke halb hinter und halb neben seiner großen Schwester stand. Der Zehnjährige hatte die Hände tief in seinen Jackentaschen vergraben, tippelte gelangweilt mit den Füßen herum und hatte bis eben versucht, den Gesprächen der Jugendlichen um ihn herum zu folgen.

Beinahe erschrocken blickte er seine große Schwester an. „Aww Jakob, flitz mal rüber zu deinen Freunden, hier bei uns ist das doch langweilig für dich", pflichtete ihr Robins beste Freundin Franzi bei und tätschelte den Kopf des kleinen Jungen, den sie schon gekannt hatte, als er noch ein kleines Baby gewesen war. Jakob grummelte, drehte sich ruckartig um und lief zielstrebiger als ihm eigentlich zumute war, auf den hinteren Teil des Pausenhofes zu. ,Flitz mal rüber zu deinen Freunden', äffte der Zehnjährige das blonde Mädchen flüsternd nach während er mit seinen ausgetretenen, dunkelblauen Klettschuhen über den rauen Asphalt schlurfte. Welche Freunde? Das war ja das Problem.

Der Eintritt in die weiterführende Schule hatte für Jakob so etwas wie ein Neustart sein sollen. Das hatte sich der Zehnjährige zumindest selbst als Ziel gesetzt. Er würde nicht länger das uncoole, kleine Kind sein. Die Voraussetzungen waren gut: Aus seinem kleinen Dorf war er der einzige Fünftklässler, der dieses Jahr auf dem riesigen, grauen Gymnasium in der nicht ganz so nahegelegenen Kreisstadt eingeschult worden war. Auch von seinen Pipi-Problem, wie Jakobs oft aussichtloser Kampf gegen seine Blase Familienintern betitelt wurde, wusste bis auf seine beiden Geschwister und deren Freunde keine einzige Menschenseele auf den großen Pausenhöfen des weitläufigen Schulgeländes. Der Zehnjährige war selbst ein wenig stolz darauf, wie gut es ihm gelang, seine Drynites während der Schulzeit zu verstecken. In der Grundschule hatte er das nicht mal versucht, wozu auch? Als er nach dem Kindergarten in die erste Klasse gekommen war, hatte er seine Pampers gegen Pullups getauscht und seine Klassenkameraden, die vor ein paar Wochen noch seine Kindergartenkameraden gewesen waren, kannten ihn ohnehin als großes Windelkind. Wie eigentlich alle in dem kleinen Dorf und so wirklich hatte ihn das damals auch gar nicht gestört.

Aber jetzt, mit Zehn? Er war froh, dass kein einziger seiner neuen Mitschüler auch nur ahnte, dass er unter seinen Jeans statt Unterhosen hellblaue, mit Skateboards oder Camouflage-Muster bedruckte Hochziehwindeln trug. Und über jeden Tag, an dem seine Drynites zumindest dann noch trocken waren, wenn er aus der Schule heimkehrte, war er besonders froh.

Die Chancen dafür standen auch heute nicht schlecht, zumindest noch. Hundertprozentig trocken war seine Sicherheitsunterwäsche, als er durch den überdachten Bereich am Schulkiosk lief und verspielt im Slalomkurs die dunkelgrünen Metallpfosten umkurvte. Aber es war auch erst halb Acht. Noch nicht einmal die Sonne war aufgegangen sondern stattdessen erleuchtete noch das kaltweiße Licht der vereinzelten Neonlaternen das Pausenhofgelände.

Leise und ohne dass seine Klassenkameraden Notiz von ihm nahmen setzte sich Jakob zu der Gruppe an frisch zusammengewürfelten Zehn- und Elfjährigen, die nun die Klasse 5E darstellten und ihren Stammplatz auf den breiten Treppenstufen neben den großen Bäumen am östlichen Rande des Schulhofes gefunden hatten. In kleinen Gruppen von maximal vier Personen unterhielten die anderen Kinder sich und Jakob fiel auf, dass maximal die Hälfte seiner Klassenkameraden hier versammelt war und er keine Ahnung hatte, wo all die anderen waren.

In der Grundschule in seinem Dorf, auf die er noch vor ein paar Monaten gegangen war, war alles viel einfacher gewesen. Der Pausenhof war überschaubar gewesen und Jakob hatte jederzeit gewusst, wo sich die vierzehn anderen Schüler seiner kleinen Klasse in der Pause rumgetrieben hatten. Die Fußballer hatten auf dem Teerplatz Fußbälle hin und hergekickt, er und seine Freunde hatten auf dem Klettergerüst gespielt, die Mädchen hatten an den zwei Tischen am Rande des Pausenhofes gesessen oder das Hüpfekästchenfeld vor dem Eingang belagert und alle hatten sich immer darum gestritten, wer das einzige Kettcar auf dem Pausenhof fahren durfte. Und am Anfang der Pause, das war die eiserne Regel gewesen, trafen sich alle erst einmal an der mit einer großen Vier beschrieben Tischtennisplatte vor dem Schulgebäude um sich eine ihrer Vanille-, Erdbeer-, oder Kakaomilchflaschen, die jeden Tag zuverlässig in einem kleinen roten Getränkekasten geliefert wurden, zu nehmen.

Die Geheimnisse der Kerkwald-GeschwisterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt