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Fay

Angst. Sorge. Panik. Genau diese Gedanken gehen mir durch den Kopf, als wir auf dieser schmalen Landstraße durch die hohen Berge fahren. Doch die Angst gilt nicht nur dem neuen Leben, welches wir bald annehmen werden, sondern meiner Vergangenheit. Die Vergangenheit, welche nur ein paar Tage her ist. Einen. Um genau zu sein.

All diese Gefühle die ich in mir trage und ich kann nur durch Mama's Erzählungen erahnen wie es geschehen ist. „Er ist gegen den Glastisch gefallen, Fay. Oder?" Ihre Worte sind wie angeheftet in meinem Schädel. Immer und immer wieder geht mir ihre brüchige Stimme durch den Kopf.

Was ist passiert?" Ich weiß es nicht.
„Atmet er noch?" Ich weiß es nicht.
„Wie lange warst du ohnmächtig?" Ich weiß es nicht.
„Wie lange liegt er hier schon?" Ich weiß es nicht.

Ich weiß gar nichts mehr.

Doch das Blut, welches schon längst getrocknet war als ich auf meine Hände gestarrt habe, war nicht meins. Es war seins. Dad's Blut. An meinen Händen.
„Du wolltest ihm sicher nur helfen, Fay!" Ja? Wollte ich das?
Ja. Denn anders kann es nicht gewesen sein. Ich wollte ihm helfen. Ich wollte ihm helfen. Ich wollte ihm he-

„Wir werden das Geld in dem Keller verstecken. Dein Vater hätte es so gewollt", unterbricht mich die leise Stimme meiner Mutter. Ach ja. Dad's Geld. Das Geld, welches er gestohlen in seinem Wandschrank versteckt hat, als er noch am Leben war.

Wurde er wohl schon gefunden? Wurde seine angebliche Mordwaffe gefunden? Oder verwest er weiter dort. Dort, auf dem kalten, dunklen Holzboden.

„Fay?" Blinzelnd drehe ich meinen Kopf in Mum's Richtung, welche mir sorgend in die Augen schaut. „Alles gut?" Ich nicke schweigend. „Das Haus soll schön sein." Ich nicke erneut, bevor ich mich wieder den grünen Bäumen widme, welche alle eng aneinander gereiht auf den Bergen thronen, während sie von der roten Sonne in ein angenehmes gold getaucht werden.

Atemberaubend. Das hätte Dad gesagt, würde er diesen Sonnenuntergang miterleben. Denn dieses Wort hat er immer in unvergesslich schönen Momenten benutzt. Wenn Mum ihm ihr neues Kleid gezeigt hat. Wenn er eins seiner Lieblingstiere durch den Wald rennen sehen hat. Wenn er uns lachen sehen hat. Ich habe und werde es niemals in traumhaften Situationen benutzen.

Atemberaubend. Es kann genau das Gegenteil bedeuten. Ein gebrochenes Herz kann atemberaubend sein. All die schlimmen Dinge die einem passieren kann man als atemberaubend bezeichnen. Denn all das ist so schrecklich, dass es dir den Atem raubt. Natürlich sieht das niemand so. Niemand außer ich.

Schon immer hatte ich eine andere Blickweise. Auf das Leben, auf Wörter, auf Situationen. Vielleicht schreibe ich deswegen so gerne? Weil mich dort endlich jemand versteht. Versteht wie ich denke, wie ich beschreibe, wie ich mich ausdrücken will. Niemand tut das, außer ich. Keiner. Nicht einmal Mum.

Auf meiner Lippe herum kauend, kurble ich die schon etwas veraltete Fensterscheibe herunter und lasse den kühlen Wind durch mein dunkles Haar fegen. Mit geschlossenen Augen lasse ich meine Hand aus dem Fenster fallen, spüre wie der Wind sie sanft nach hinten drücken will und wie die Sonne gleichzeitig versucht sie zu wärmen.

Die Berge. Als kleines Kind wollte ich immer dort leben. In einem großen Haus, ganz versteckt meine Familie gründen, von niemanden gestört werden und glücklich sein. Und nun? Nun lebe ich meinen Kindheitstraum, ziehe in die Berge, doch trotzdem habe ich den Wunsch zu sterben.

Den Wunsch, das Blut meine Arme heruntertropfen zu spüren. Den Schmerz durch meinen ganzen Körper fahren zu fühlen und zu sterben. Oder doch erfahren wie es ist die Kugel durch meine Kopfhaut zu schießen? Verspüren, wie mein Körper erleichtert auf den Boden prallt und meine Seele endlich Frieden finden kann?
Schafft es jemals irgendwer mir diesen Wunsch zu nehmen?

Müde öffne ich meine Augen, lass meine nun eiskalte Hand in mein Schoß fallen und schaue zu meiner Mutter, welche den Blick starr auf die Straße gerichtet hat. „Wann sind wir da?", sind nun meine aller ersten Worte, seitdem wir losgefahren sind. „Die Stadt müsste hinter dem Wald liegen." Ich nicke.

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Leise seufzend, sodass Mum es nicht hört, laufe ich neben ihr her zum Kofferraum, stelle die vielen Taschen nebeneinander auf die graue Straße und wende mich zu unserem neuen Haus. Das ist es also. Das Haus, welches durch braunes Wildholz zusammen gehalten wird, von dem die Fenster leblos mit Schmutz bedeckt sind und von dem die rote Tür der einzige Farbtupfer ist.

Home sweet home

Die schnörklige Schrift macht es beinahe unlesbar, doch das helle blau passt ganz gut zu der Tür, an dem Mum das kleine Schild nun befestigt.
„So?", fragt sie konzentriert und versucht weiterhin die Ecken in einer Waagerechten hängen zu lassen. „Noch etwas nach rechts."

Lächelnd lasse ich meinen Blick nun durch die Straße schweifen, welche von ein paar weiteren Häusern geschmückt wird. Doch das aller erste, was mir auffällt, sind die Berge. Natürlich die Berge. Denn egal wo ich hinschaue, im Hintergrund faszinieren einen die grünen Hügel. Die Dunkelheit macht es nur etwas schwierig irgendetwas zu erkennen. Denn all das, was am Tag in schönes Sonnenlicht getaucht wird, steht nun verlassen und in Schwarz.

Mit zusammen gekniffenen Augen hebe ich nun die ersten Taschen an und trete den ersten Schritt auf unser neues Grundstück. Es gehört tatsächlich uns. Ein erleichtertes Seufzen kommt über meine Lippen. Wir fangen neu an. Lassen uns nicht stören. Lassen uns nicht zurück in die Vergangenheit schleudern.

Der Vorgarten wird von einem braunen, etwas älteren Zaun, von der Straße getrennt. Kleine Blüten wachsen wild über die Beetränder und der Rasen müsse auch mal wieder gemäht werden. Die nächsten Tage sind definitiv durchgeplant.

Doch während ich meinen mühsamen Weg zu der Eingangstür fortfahre, springt mir der kleine Lichtfleck rechts von mir ins Auge. Sofort lasse ich meinen Blick weiter zu dem Haus neben uns schweifen und erblicke tatsächlich einen jungen Mann durch das erhellte Fenster starren. Doch obwohl ich stehen bleibe, in anstarre und ihm signalisiere, dass er aufgeflogen ist, betrachtet er mich weiterhin. Zieht ein zweites Mal an seiner Zigarette und lehnt sich noch ein Stück aus dem Fenster.

Schwer schluckend umklammere ich den Henkel der Tasche fester, sodass ich meine Fingernägel in meiner Innenhand zu spüren bekomme, doch schaue nicht weg. Er fasziniert mich? Seine akkurat gesetzten Muskeln, welche sich weiter anspannen, desto länger er sich an dem Fensterbrett abstürzt und seine dunklen Haare, welche zerzaust auf seinem Kopf liegen.

Er fasziniert mich. Anscheinend ist er an die kühlen Nächte gewöhnt, denn sein Oberteil hat er nicht an. Anders als ich, die mit zwei dicken Jacken draußen vor ihrem neuen Haus steht und ihren Nachbar beim rauchen beobachtet.

Seine Gesichtszüge, oder weitere Merkmale, kann ich durch den weiten Abstand und durch die Dunkelheit, nicht mehr erkennen. Doch das er immer noch nicht weg guckt, obwohl er schon weitere tiefe Züge genommen hat, entgeht mir nicht. „Fay!" Erschrocken wende ich meinen Blick ab und setze meinen Weg ins Haus fort, ohne meinem neuen Nachbarn auch nur einen weiteren Blick zu widmen.

Was denkt er von mir? Sieht er mich eher als das neue schüchterne Mädchen, welche neu mit ihrer Mutter in die Stadt zieht? Denn so würde ich mich sehen. Niemals würde er erahnen, dass das Geld in den Taschen, welche ich soeben in meinen Händen hielt, gestohlen ist. Er würde auch nicht erahnen, dass wir meinen toten Vater vor kurzem im Haus zurück gelassen haben.

 Er würde auch nicht erahnen, dass wir meinen toten Vater vor kurzem im Haus zurück gelassen haben

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