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Fay

„Packst du weiter aus?", hallt Mum's laute Stimme durch die noch leeren Flure und lässt einen weiteres Pappkarton auf den Boden fallen. „Ich wollte was von dem Bäcker holen. Der soll in einer der nächsten Straßen sein", antworte ich, mit dem Blick auf mein hellgestellten Handy gerichtet, auf dem die Wegbeschreibung so genau wie es nur geht zu erkennen ist.

„Na gut", murmelt sie, als ich nun neben ihr stehe und meine Hausschuhe schon gegen normale Sneaker getauscht habe. „Nicht zu lange", mahnt sie und zeigt mir, um es mir klarerer zu verdeutlichen, mit dem Finger auf mich. „Du weißt, wir haben noch genug zu tun." Mit einem einfachem Nicken und einem flüchtigen Kuss auf ihre blasse Stirn, verlasse ich unser neues zu Hause und trete in die kühle, aber dennoch angenehme Morgenluft.

Ich glaube mit einer der ersten Frage die ich mir stellen würde, würde ich eine Mutter mit ihrem 21 Jahre alten Kind nebenan einziehen sehen, wieso ich noch bei meiner Mutter lebe. Ich bin erwachsen, könnte mir ganz einfach ein lebende alleine aufbauen. Wobei ganz einfach etwas schwierig formuliert ist.

Es ist genau das Gegenteil. Es ist das schwierigste überhaupt, alleine ein Leben aufzubauen. Alleine in einem Haus, oder einer Wohnung zu leben, sich den alltäglichen Problemen alleine widmen zu müssen und ohne Unterstützung leben, die wir sonst von unseren Eltern umsonst bekommen haben. Wir sind erwachen. Heißt, wir müssen selber auf uns aufpassen.

Und da Dad nun tot ist, wir geklautes Geld in unserem Haus versteckt hatten und haben und ich keine Ahnung habe, was alles auf uns zu kommen wird, werde ich Mum nicht so schnell verlassen. Ich liebe sie. Sie ist die einzige Person, welche mich noch nie in meinem ganzen Leben enttäuscht hat.

Abgesehen von dem Vorfall bei einer Party von ihren Freunden, wo sie mich vor allen bloßgestellt hat, weil ich nicht das Kleid anziehen wollte, was sie ausgesucht hatte und stattdessen lieber einen viel zu kurzen Rock und eine extrem luftige Bluse angezogen habe. Ich war ein junger Teenager. Was hätte ich sonst tun sollen? Immer auf meine Mutter hören?

Ein enttäuschtes Lachen kommt mir über die Lippen, wenn ich an meine Kindheit zurück denken muss. Alleine war ich die meiste Zeit. Alleine in meinem Zimmer, da Mum und Dad meistens etwas wichtiges vor hatten. Alleine, weil Dad meine Mum doch noch zu einem seiner Treffen zwingen musste. So alleine, dass keiner das Blut an der Rasierklinge bemerkt hat.

Sofort schüttle ich mir die Erinnerungen aus meinem Gedächtnis. Es war ein Fehler. Ein Fehler so zu handeln statt ein Gespräch zu suchen. Aber so handelt man als Kind. Unüberlegt und ohne Sorge vor den Konsequenzen. Doch als Mum endlich verstanden hat, was mit mir und meiner Gesundheit passiert, lag ich schon für zwei Tage im Krankenhaus. Ab diesem Zeitpunkt, hat sie mich nie wieder alleine gelassen.

Manchmal muss man einen Menschen fast verlieren, um zu verstehen wie wichtig sie einem tatsächlich sind. Obwohl das für eine Mutter eigentlich klar sein sollte. Das hat sie seit diesem Tag auch verstanden.

Mein Blick schweift zu den großen Bäume, welche alle in mehreren Reihen am Straßenrand angepflanzt sind. Der Wind bewegt die grünen Blätter langsam im Takt und hat eine beruhigende Wirkung auf diese Umgebung. Die Sonne steht schon längst über den Bergen und die vielen Vogellaute bringen mein Herz dazu, schneller zu schlagen.

Dad hat Vögel geliebt.

Dad, Dad, Dad. Was ist nur passiert? Wieso kann ich mich nicht erinnern? Bist du hingefallen? Oder verdränge ich bloß die Wahrheit, weil sie schlimmer ist als ich vermute? Oh Gott, wie denke ich über mich.

Voided EyeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt