Kapitel 1

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Seit ich von zu Hause weggerannt bin ist einige Zeit vergangen. Es fühlt sich an, als wäre es erst gestern gewesen, als ich nach Hause kam und erneut meine streitenden Eltern beobachten durfte.

Kaum war die Tür geschlossen, landete eine Vase mit Blumen neben mir an der Tür. Meine Eltern hatten mich nicht bemerkt und ich hoffte, dass mein kleiner Bruder nicht zu Hause war. Die Blumen fielen aus der Vase raus und das Glas zerbrach in hunderte von kleinen Stücken. Das Wasser verteilte sich auf den Boden und ich spürte ein paar Tropfen auf meine Haut spritzen. Seufzend ging ich durch den Flur in das Esszimmer, in dem meine Eltern standen. „Ich bin zu Hause“, sagte ich leise, aber auch das lenkte sie nicht von dem Streit ab. Ich blieb neben ihnen stehen und sah sie an. „Wo ist Danny?“, fragte ich, die Unsicherheit deutlich aus meiner Stimme raus zu hören. Meine Mutter sah mich kurz an und warf meinem Vater dann wieder einen Blick zu, den ich nicht deuten konnte. Vorwurf, Hass und Wut, aber auch etwas Enttäuschung. „Den hat dein Vater vergessen“, sagte sie vorwurfsvoll. Kaum hatte sie den Satz gesagt, fingen sie wieder an zu streiten. Seufzend nahm ich meinen Schlüssel wieder und ging zur Tür. Vor der Tür lagen verschiedene Blumen zwischen den Scherben, die Danny gepflückt hatte. Mein Vater hatte noch zwei Rosen in die Vase gesteckt, die jetzt ebenfalls auf dem Boden liegen. Kaputt und zerrupft. Mit abgefallenen Blüten. Zwischen den Scherben lag eine kleine blaue Blume, die noch ganz war. Danny hat sie auf dem Weg nach Hause gepflückt, jedes Mal, wenn er Blumen mitbrachte, war sie dabei. Vorsichtig öffnete ich die Tür, wodurch die Scherben etwas zur Seite geschoben wurden und ging vorsichtig nach draußen. Sobald ich die Tür hinter mir geschlossen hatte, eilte ich zur Schule meines Bruders. „Wie lange er wohl schon dort auf meinen Vater gewartet hatte?“, überlegte ich. Als ich an der Schule ankam, sah ich meinen Bruder in seinen Sportklamotten auf einer Mauer sitzen. In seinen Händen hielt er einen Fußball und baumelte mit den Füßen. „Lass uns nach Hause gehen“, sagte ich mit einem Grinsen, als ich bei ihm ankam. Überrascht sah er mich an. „Wo ist Papa? Er wollte mit mir spielen“, sagte er schmollend. Danny versuchte vergeblich zu unterdrücken, wie traurig er war. „Dann spiel ich eben mit dir“, sagte ich und nahm seine Hand. Mit der anderen Hand holte ich mein Handy raus und schrieb meinem Vater eine Nachricht: „Ich hab Danny abgeholt, wir spielen noch etwas Fußball, wenn ich nach Hause komme, hoffe ich, dass ihr beide euch wieder eingekriegt habt und du eine gute Ausrede hast, warum du Danny vergessen hast. Enttäusch ihn bitte nicht“. Nachdem wir eine Weile spielten, besserte sich Dannys Laune etwas und ich hoffte nur, dass meine Eltern langsam wieder zu Sinnen kamen. Auf dem Weg nach Hause liefen wir am Feld, das am Rand der Stadt lag vorbei, um noch etwas Zeit zu schinden. „Guck mal“, sagte er und zog mich am Arm zu den Blumen hin. „Wollen wir ein paar für Mama und Papa pflücken? Bestimmt freuen sie sich“, sagte er aufgeregt und ich nickte zustimmend. Mir kam der Gedanke an die zerbrochene Vase wieder. Als Danny wieder zu mir zurückkam, hielt er ein paar kleine, blaue Blumen in der Hand. „Wie heißen diese Blumen?“, fragte er mit einem breiten Grinsen auf dem Gesicht. „Vergissmeinnicht“, antwortete ich. Begeistert sah er die Blumen an. „Vergissmeinnicht“, murmelte er. Ich ging in die Knie und er reichte mir eine der Blumen. „Vergiss mich nicht“, sagte er lachend. Sein Lächeln zog sich über beide Ohren und er steckte mir die Blume in die Haare. „Vergissmeinnicht, nicht vergiss mich nicht“, sagte ich lachend und betonte den Namen. „Ich weiß“, sagte er, „aber vergiss mich nicht gefällt mir besser“.

Nachdem er ein paar weitere Blumen gepflückt hatte, gingen wir nach Hause. Nur, um es komplett verlassen vorzufinden. „Wo sind Mama und Papa?“, fragte Danny mit den Blumen in der Hand. Sein Lächeln verschwand langsam von seinem Gesicht. In meinem Kopf versuchte ich mir irgendeine Ausrede auszumalen, nur um schließlich zu sagen: „Ich weiß es nicht“. Enttäuscht legte Danny die Blumen auf den Tisch. „Ich bin in meinem Zimmer“, murmelte er kaum verständlich und eilte die Treppe hoch. Als ich die Blumen in Wasser stellen wollte, fand ich einen Zettel von meinem Vater: „Ich komme spät nach Hause, mach Danny bitte etwas zu essen. Hab dich lieb. Papa“. Seufzend sah ich auf den Zettel und füllte die Vase mit Wasser.

„Danny“, sagte ich und klopfte ein paar Minuten später leise an seine Tür. Keine Antwort. Vorsichtig öffnete ich die Tür einen Spalt weit und sah meinen kleinen Bruder auf dem Bett in seiner Decke zusammengerollt. „Was willst du?“, fragte er genervt. „Was willst du heute Abend essen?“, fragte ich und setze mich zu ihm aufs Bett. „Nichts“, antwortete er nur kurz. „Du musst was essen“, redete ich auf ihn ein und zog ihn etwas aus der Decke raus. „Wann kommen Mama und Papa wieder?“, fragte er und sah mich mit Kulleraugen an, die sich langsam mit Tränen füllten. Mit einer leichten Umarmung flüsterte ich nur: „Spät“.

Beim Abendessen schwiegen wir beide nur, während mein Blick immer wieder auf die Vergissmeinnicht viel. Nachdem Danny aufgegessen hatte, brachte ich ihn ins Bett und wartete auf meine Eltern. Zumindest einen der beiden. Egal ob es meine Mutter, oder mein Vater war, aber ich wollte, dass einer da ist. Mir meine Fragen beantworten kann. Ich sah von meinen Hausaufgaben hoch und die Blumen erregten erneut meine Aufmerksamkeit. „Ich hab das Gefühl ihr habt uns vergessen.“, murmelte ich zu den Blumen. Nach einigen Stunden wurde ich müde und bemerkte, dass es bereits nach zwölf Uhr war. Ich habe die ganze Nacht gewartet… vergebens.

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