Kapitel 4

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Ich ging erneut nach unten und setzte mich dieses Mal ins Wohnzimmer, mit der Haustür im Blick, in der Hoffnung, dass mein Vater bald nach Hause kommen würde, oder meine Mutter das als schlechten Witz meint und wieder kommt. Mir war klar, dass ich versuchte mich selber anzulügen, aber nur so konnte ich meine Tränen zurückhalten. Der Brief lag vor mir und ich starrte darauf, als würde er mir eine Geschichte erzählen, oder mir beantworten, wie ich das meinem Vater erklären sollte, oder ob ich es ihm sagen sollte. Ein Brief in dem meine Mutter nichts erklärt und sich auch nicht entschuldigt, das war nicht so einfach. Mich indirekt bittet mit ihr auf eine feige Weise meine Familie zu hintergehen und zu verlassen. Nie wieder Kontakt zu ihnen zu pflegen. Es war einfach nur link. Trotzdem konnte ich nicht lange sauer auf sie sein und wünschte mir nichts sehnlicher, als dass sie wieder nach Hause kommt. Das Ganze gar nicht ernst meint und alles wieder gut wird. Mein Vater und meine Mutter aufhörten zu streiten und sich vertragen, sodass Danny und ich nicht immer darunter leiden müssen. Würde es wirklich zu einer Trennung kommen, müssten wir uns für eine der beiden Seiten entscheiden. Für ein Kind gibt es vermutlich nichts Schlimmeres und ich will nicht, dass Danny das durchmachen muss. Als ich bemerkte, dass sich erneut Tränen den Weg mein Gesicht runterbahnten und auf mein Shirt tropften, wollte ich mich selber dafür bestrafen, dass ich bereits an solche Sachen dachte, obwohl noch gar nichts feststand. In dem Moment hörte ich, wie sich der Schlüssel in der Haustür umdrehte. Mein Vater kam ins Wohnzimmer und seine Miene fiel, als er mich weinen sah, in der Hand der Brief meiner Mutter. „Was ist passiert?“, fragte er besorgt und kam auf mich zu. Ich hielt ihm den Brief entgegen und er sah mich fragend an. „Les das“, sagte ich schluchzend und er setzte sich neben mich. Die Stille wirkte erstickend, während er den Brief las. Ich hatte das Gefühl, dass die Zeit stehen blieb. Mein unruhiges Atmen übertönte alles und mein schluchzend durchriss die Stille. Mein Vater zeigte keine Regung, als würde er einfach auf den Brief draufstarren, aber seine Augen bewegten sich immer wieder von der einen Seite zur anderen. Er las den Brief nicht nur ein Mal. Auch nicht zwei Mal. Nach langer Zeit sah er auf und sah mich an. Seine Augen rot mit Tränen gefühlt und seine Hand zitternd. Er nahm mich in den Arm. „Geh schlafen und versuch dich etwas auszuruhen, ich bleib noch etwas auf“, flüsterte er und als ich nach oben ging, sah ich wie er den Brief ein weiteres Mal durchlas. Ich konnte kaum einschlafen, da ich immer wieder darüber nachdenken musste, ob es die richtige Entscheidung war. Mir war klar, dass morgen ein anstrengender Tag werden würde, schließlich würde mein Vater sie nicht einfach so gehen lassen wollen. Mir blieb nur eine Frage im Kopf, bis ich es schaffte einzuschlafen: „Was war mit Danny?“ Er würde es unweigerlich mitbekommen. Im Schlaf wurde ich von Alpträumen geplagt und als ich aufwachte, sah ich draußen bereits die Sonne aufgehen. Seufzend stand ich auf. Es dauerte nicht lange, bis es draußen hell war. Als ich nach unten ging, sah ich meinen Vater am Tisch sitzen. Er hatte schwarze Ringe unter seinen roten Augen und vor ihm stand eine Tasse Kaffee. „Dad?“, fragte ich leise und vorsichtig. Er sah mich mit seinen roten Augen an. „Guten Morgen“, murmelte er mit heiserer Stimme. „Alles in Ordnung?“, fragte ich und ging in die Küche, um mir einen Kakao zu machen. „Alles in Ordnung?! Du fragst mich wirklich ob alles in Ordnung ist?! Du hast mir doch den Brief deiner Mutter gegeben! Du weißt doch selber über alles am besten Bescheid, vermutlich hat sie dir schon alles weitere gesagt! Du gehst doch mit ihr, also sag mir wenigstens, zu welcher Freundin ihr geht!“, schrie er mich an und sah mich hasserfüllt an. „Warst du die ganze Nacht wach?“, fragte ich unsicher und etwas ängstlich. „Klar! Was erwartest du von mir? Das ich total erleichtert in den besten Schlaf meines Lebens falle?! Geh! Pack deine Sachen und verschwinde mit dieser Frau endlich aus meinem Leben!“, schrie er. Danny stand mit einem Kuscheltier in der Hand auf der Treppe. „Dad?“, fragte er unsicher. Überrascht sah ich ihn an. „Geh wieder hoch in dein Zimmer, Danny“, sagte ich. „Was willst du ihm vormachen?!“, schrie mein Vater mich weiter an. Vor Schreck lies ich die Tasse fallen, als er sich zu mir drehte. „Das ist doch alles bloß eine Lüge!“, schrie er. Ich sah wie eine Träne sein Gesicht runter rollte, als er sich zu Danny drehte. „Deine Schwester und deine Mutter verlassen uns! Sie rennen weg, lassen uns alleine!“, schrie er ihn an. Danny fing sofort an zu weinen und rannte auf mich zu. Er lief durch die Scherben und umarmte mich. Ich verstand die Welt nicht mehr. Was war mit meinem Vater los? Er war anders als gestern. Gehässig anstatt fürsorglich. Ich hob Danny auf einen Stuhl und machte seine Füße vorsichtig sauber. „Ich gehe nirgendwo hin“, sagte ich. „Und was ist dann mit dem Brief?!“, fragte mein Vater. Bevor ich antworten konnte sagte meine Mutter hinter mir: „Also hast du dich entschieden?“. Das war der Moment, in dem der wahrscheinlich schlimmste Streit begann, den ich je mitbekam. Ich verstand kaum noch was sie schrien und Danny konnte nicht aufhören zu weinen. Meine Ohren wurden langsam taub, bis zu dem Punkt an dem meine Mutter die Vase mit den Blumen vor Danny und mich schmiss. „Lasst mich in Ruhe! Ich werde ein besseres Leben anfangen, ohne euch!“, schrie sie. Mein Vater erwiderte mit weiterem Gebrüll. „Mach dass und vergiss uns! Aber bereue deine Entscheidung nicht!“, sie hörten nicht auf rumzuschreien und ich sah Danny an. Er sah auf die Blumen, komplett sprachlos. „Vergissmeinnicht“, murmelte er. Es zerriss mein Herz meinen Bruder so am Ende zu sehen. Ich stand auf und küsste seine Stirn. „Nie“, sagte ich und rannte aus dem Haus. Barfuß und in meinem Schlafanzug, aber ich wusste genau, wo ich hinwollte. Wenn niemand eingriff, würden meine Eltern nie aufhören. Ich bemerkte, dass mein Fuß etwas blutete und ein Vergissmeinnicht auf meinem Fuß klebte. Ich nahm die Blume und lief ins Jugendamt. Sofort kam jemand und ich erzählte was passiert war. Mein Blick durchgängig auf die Blume gerichtet. „Haben Sie Verwandte, zu denen wir Ihren kleinen Bruder schicken können?“, fragte die Dame und ich antwortete nicht. Ich konnte nicht aufhören zu weinen. „Es tut mir Leid, Daniel“, murmelte ich und hielt die Blume immer fester, bis sie kaputt ging.

VergissmeinnichtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt