Laute Geräusche, Menschenmengen, die sich unterhalten und immer mal wieder eine schreiende Männerstimme, die aus voller Kraft »Die zartesten Stoffe, die ihr jemals gesehen habt. Eure Kleidung wird DER Hingucker zu jedem Anlass sein.«, schrie, umgaben den Jungen. Er sah sich nicht mal um, obwohl es überall genug zu sehen gab. Wie einstudiert lief er genau denselben Weg, den er immer auf dieser Einkaufsstraße entlang ging.
Einmal in der Woche waren hier die Menschen auf den Straßen versammelt, um Ihre Lebensmittel, Herstellungsgegenstände, aber auch Kleidung, Taschen oder sonstige Dinge, an ihren selbst aufgestellten Ständen zu verkaufen. Manche schrien dabei so laut, dass einem die Ohren hätten abfallen können, nur um Ihren Stand zu bewerben. Andere waren hingegen eher ruhiger und warteten einfach, bis sich jemand ihren Stand ansah, um dann erst ein Gespräch anzufangen. Diese Leute waren Nyle am liebsten. Er genoss es einfach, wenn sie nicht alle durcheinanderschrien. Er ging dort häufig vorbei, nur an den Tagen, an denen die Leute ihre Stände aufgebaut hatten, machte es ihm wirklich keinen Spaß.
Ohne auch nur aufzuschauen, ging er durch die kleinen Gruppen von Menschen. Von Links krähte eine schrille Frauenstimme: »Sie können mit mir nicht verhandeln, der Preis ist jede Woche derselbe. Egal wie oft Sie noch danach Fragen.« Diese Stimme war auch nichts neues. Sie gehörte zu Lady Brisa, einer älteren Dame, die vor Ihrem Haus an einem hölzernen Stand ihre gepflanzten Obst- und Gemüsesorten verkaufte. Jede Woche war sie die erste die morgens anfing aufzubauen und die letzte die wieder abbaute. Sie legte eine noble, weiße Tischdecke über den langen Holztisch aus und begann pünktlich bei Sonnenaufgang ihre Waren dort auszubreiten. Ab und an hatte sie auch mal Gebackenes im Angebot, wenn sie sich vorher die Zeit genommen hatte ein paar Leckereien herzurichten. Wie jedes Mal beachtete die Dame auch an diesem Tag wieder nicht genau genug ihr breites Sortiment und im Getümmel griff Nyle, ohne nennenswert seinen Kopf zu drehen, geschickt zwischen zwei größeren Herren hindurch und nahm sich einen Apfel vom Tisch. Mit etwas schnellerem Schritt und den Händen wieder in seiner Jacke verschwunden ging er dann aber schnell weiter, um nicht aufzufliegen.
Als er hinter der nächsten Häuserecke verschwunden war, fing er an mit einem Mundwinkel ein klein-wenig zu schmunzeln, was jedoch weniger von der Komik der Situation, als vielmehr von seiner Freude über den Sieg herrührte. Er zog seine linke Hand aus seiner Jackentasche und hielt immer noch den saftig-roten Apfel darin. Er sah ihn kurz an und biss dann davon ab, als hätte er eben das alltäglichste der Welt getan. Tatsächlich war es für ihn auch keine Besonderheit, dass er hier und da etwas mitgehen ließ. Seiner Familie konnte er jedoch nichts davon erzählen. Sie waren zwar arm, aber stolz darauf trotzdem stets Leben zu können, ohne sich auf kriminelle Machenschaften einlassen zu müssen. Das betonte sein Vater regelmäßig. »Ich habe euch zu guten Kindern erzogen, nicht zu Dieben, oder sonstigen Unruhestiftern.« Die Stimme seines Vaters schallte seicht durch seinen Hinterkopf, während er weiter beherzt in den Apfel biss und dabei mit den Augen dem Bach folgte, der neben der steinigen Straße verlief.
Dort wo er abgebogen war, ging es aus der Stadt raus. Die Gebäude wurden zwar nicht kleiner oder größer, aber dafür älter, je weiter er aus der Stadt lief. Der Vorteil wiederum war, dass die abgelegeneren Häuser umgeben waren von Gärten, Wiesen und Wäldern, wohingegen die Stadthäuser höchstens eine kleine mit einer Hecke abgesteckten Grünfläche vorzuweisen hatten. Regelmäßig ging er dort vorbei auf dem Weg nach Hause. Sein Haus, genauer gesagt das von seiner Familie, lag sehr weit außerhalb der Stadt. Man musste schon motiviert sein ein gutes Stück zu laufen, bevor man ankam, aber die Gegend war schön. Viele Wälder und Wiesen, auf denen Kühe und Schafe standen. Der Anblick der Tiere beschäftigte Nyle, während er so lange vor sich hinlief. Jedes Mal sah er sich die Kühe an und diese sahen sich ihn genau an. Manchmal konnte man sogar glauben, dass sie einander musterten und sich zu ihrem Ritual immer erneut ansahen, wenn er vorbeilief. Dabei konnte Nyle nicht mal genau sagen, ob es jedes Mal dieselbe Kuh war, die ihn ansah. Häufig war er so in Gedanken, dass er sich komplett in dem Moment verlor und gar nicht mehr wusste, wie er gelaufen war oder wo er währenddessen hingestarrt hatte. Vermutlich sah er dabei nicht viel kälter und abwesender aus, als er es sonst auch tat. Immerhin war er dafür bekannt im Alltag keine Miene zu verziehen. Abseits von zuhause lächelte er äußerst selten. Er hatte auch nicht das Gefühl, dass er einen Grund dafür hatte. Manchmal wenn er mit seinem Freund Orin unterwegs war, oder die beiden einfach in einem ihrer Geheimverstecke saßen und sie sich unterhielten, kam es schon öfter vor, dass er lachen musste, aber sonst eher seltener. Jedenfalls war ihm das auch egal. Immerhin begegnete er nach dem Stadtrand eigentlich niemandem mehr.
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Blutender Saphir
FantasyEin Junge namens Nyle aus einfachen Verhältnissen erlebt eine Geschichte, die ihm seine Bestimmung zeigt und sein Leben von Grund auf verändern wird...