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Ich kenne die Frau nicht, vor der du stehst, aber ich wünschte, ich würde es. Natürlich bin ich dir gefolgt, nachdem unser Date zu Ende war und du dich schnell verabschiedet hattest. Du meintest, du müsstest noch was erledigen und bist in die U-Bahn gestiegen. Ich hab getan, als wäre ich zu meinem Gleis gegangen, aber stattdessen bin ich ganz hinten in die Bahn gestiegen und dir hinterher gegangen. Ich hab das schon oft gemacht und ich bin entweder gut darin oder du verdammt unaufmerksam. Vielleicht eine perfekte Mischung aus beidem zusammen.

Die Frau hat dunkelblonde Haare und ist deutlich älter als du und ich. Dennoch ist sie wohl noch ganz hübsch, aber für mich verblasst neben dir sowieso jeder. Du sprichst kurz mit ihr und ein bedauerlicher Ausdruck legt sich auf ihr Gesicht, bevor sie dich in das Haus bittet. Mehr kann ich nicht tun, obwohl ich zu gern wüsste, was ihr beredet. Dennoch gehe ich zum Hauseingang und werfe ein Blick auf das Klingelschild. Der Nachname sagt mir ebenfalls nichts, doch ich mache schnell ein Foto um mich informieren zu können, was du hier so treibst und mit wem du dich hinter meinem Rücken triffst.

Anderthalbstunden später sitze ich in meinem Zimmer, mit dem Laptop auf meinem Schoß. Ich wurde etwas von unseren Eltern aufgehalten , weswegen ich jetzt erst in meinem Zimmer bin. Noch warst du nicht zurück gekommen, aber es ist ja auch noch nicht spät und wer weiß, wie lange du bei dieser Frau bleiben willst. Dennoch kann ich nicht anders als bei jedem Geräusch zu meiner Tür zu starren und darauf zu warten, dass du an meinem Zimmer vorbei laufen wirst. Außerdem mache ich mir Sorgen. Immerhin kenne ich diese Frau nicht und weil ich zu neugierig war, hab ich dich dort allein gelassen. Was ist wenn dir was passiert? Was ist wenn sie dir was antut? Ich schüttele den Gedanken ab und konzentriere mich wieder auf das Flimmern des Bildschirmes. Warum, verdammt braucht dieses Drecksteil so lange um hochzufahren? Ungeduldig fahre ich mir durch die Haare, als endlich der bescheuerte Homebildschirm angezeigt wird. Ich drücke auf Google und tippe den Nachnamen und die Stadt ein. Sofort werden mir einige Ergebnisse angezeigt. Viele sind irgendwelche Menschen, die gefühlt seit einer halben Ewigkeit unter der Erde verrotten und ich seufze genervt. Ich will wissen, wer diese Frau ist! Ich drücke also auf Bilder und mein Gesicht hellt sich sofort auf, nachdem ich etwas herunter gescrollt habe. Dort ist ein Bild das der Frau von vorhin sehr ähnelt. Ein Abschlussbild an der Universität. Es ist schon ziemlich alt, aber die Gesichtszüge sind definitiv die selben.

Ich klicke auf den Artikel, der mir eine Liste von abgeschlossenen Jurastudenten aus dem Jahr 2018 und die Bilder der fünf besten des Jahrganges. Unter dem Bild der Frau steht ihr Name:

Olivia Jentsch.

Jurastudium. Mein Mund wird schlagartig trocken. Das Abschlussjahr. Das Jahr, in dem ich adoptiert wurde. Das Jahr, in dem Nathan verschwand. Ich gehe die Liste entlang bis zu meinem Nachnamen und meine Hände Ballen sich zu Fäusten.

Nathan.

Seine Name ragt aus den vielen Namen hervor und ich spüre, wie mir die Luft wegbleibt.

Olivia und Nathan haben das gleiche studiert, sie haben im gleichen Jahr ihr Abschluss gemacht. Sie könnten befreundet gewesen sein. Und meine Schwester ist bei ihr. Warum? Warum, warum, warum?

Weißt du, dass die beiden befreundet waren? Ziemlich sicher, sonst wärst du nicht dort. Aber was genau willst du da? Warum gehst du zu dieser Frau? Oder besser gesagt, wie lange gehts du schon zu ihr? Wie konnte mir das nicht auffallen?

Sicher willst du irgendwas über ihn wissen. Wie er war, ob sie eine Ahnung hat wo er ist und so weiter. Vielleicht habt ihr euch angefreundet und durch sie fühlst du dich an Nathan zurück erinnert. Vielleicht erzählt sie dir Geschichten von früher, die sie erlebt haben.

Wie lange brauchst du eigentlich noch um diesen Mistkerl endlich aufzugeben?!

Ich versuche ruhig zu bleiben. Ich versuche es wirklich, aber du weißt wie ich zu ihm stehe und wie sehr ich es hasse, dass du nicht endlich loslässt.

Und als wäre das nicht genug, höre ich Schritte, die hastig die Treppe hochlaufen, bevor eine Tür aufgeht und laut wieder ins Schloss fällt.

Deine Schritte. Deine Tür.

Du bist wieder da.

Die ganze Zeit, hab ich auf dich gewartet, hab mich gefreut wenn du wieder da bist und mir Sorgen gemacht. Aber jetzt fühle ich nur noch Wut.

Wie kannst du es eigentlich wagen, immer auf meinen Gefühlen herum zu trampeln?

Wie kannst du es wagen mir immer wieder so etwas anzutun?

Ich versuche wirklich durchzuatmen und bis zehn zu zählen um mich zu beruhigen. Aber ich komme nicht mal bis zur vier, als ich bereits meine Tür aufgerissen habe. Nichtmal eine Sekunde später stehe ich vor deiner und meine Hand ruht auf der Türklinke. Ich weiß nicht, warum ich zögere, hinein zu gehen. Vielleicht weil ich die eine schöne Erinnerung an unser Date nicht zerstören will. Vielleicht will ich, dass du mich heute in guter Erinnerung behältst und würde ich jetzt einfach in dein Zimmer platzen, wäre es kaputt.

Ich seufze leise. Tatsächlich weiß ich nicht was ich tun soll. Die Wut brodelt noch immer in mir, aber ich möchte so gern, dass du mich endlich akzeptierst. Allerdings, wer weiß, ob du unser Treffen überhaupt schön in Erinnerung hast, oder bloß eben durchgehalten hast, weil dir eben nichts anderes übrige blieb.

Ich will dich jetzt defintiv nicht in Ruhe lassen, dennoch schlucke ich meine Wut etwas herunter, setzte ein lächeln auf, sowie ich es immer mache um meine wahren Gefühle nicht zu zeigen und klopfe an deiner Tür. Ein bessere Kompromiss ist mir nicht eingefallen auf die Schnelle.

"Herein", erttönt es zurück. Du klingst relativ fröhlich, was aber auch daran liegen kann, dass du erwartest, dass es einer unsere Eltern ist, da ich ja sogut wie nie klopfe. Ich drücke die Türklinke herunter und drücke die Tür auf. Du stehst vor deinem Kleiderschrank und kramst in deinen Klamotten herum.

"Brauchst du hilfe beim suchen?",frage ich um nicht sofort mit der Tür ins Haus zu fallen. Du zuckst zusammen und wirbelst herum. Deine Hand hast du auf dein Herz gelegt.

"Gott, Jonathan, du hast mich zu Tode erschreckt", erwiderst du und zeigst mir einmal mehr, dass du eigentlich ein sehr verletzlicher Mensch bist. Schreckhaft wie ein Reh und nur immer darauf bedacht, stark zu wirken um deine Ängste anderen nicht zu zeigen. Dieses Bild lässt meine Wut nun endgültig verpuffen. Du kannst nichts dafür, dass du noch immer an ihm hängst. Du warst zu jung damals. Er ist schuld, dass er überhaupt noch existiert und nicht in irgendeinem Grab liegt. Du konntest nie trauern, weil du nie die Hoffnung aufgegeben hast.

"Ich wollte nur danke sagen, dass du vorhin mit mir Essen warst." Ich lächele leicht, bevor ich die Tür wieder schieße. Ich will deine Antwort gar nicht hören, um ehrlich zu sein. Für mich war es perfekt und das will ich mir nicht nehmen lassen.

Irgendwann wirst du selber diese Worte sagen, neben einer ganzen Reihe von anderen süßen Dingen. Bis dahin werde ich mich gedulden.

Hasse mich!Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt