Prolog

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Bäume und Felder fliegen vorbei, verschwimmen miteinander. Das Auto ihrer Eltern scheint über die Autobahn zu fliegen und dem schlumpfblauen Himmel am Horizont Stück für Stück näher zu kommen.

Den Soundtrack des Bibi & Tina Kinofilms, der das Auto mit seinen Klängen erfüllt, nimmt sie gar nicht wirklich wahr. Kein Wunder nach dem gefühlt hundertsten Mal hören in den letzten Tagen. Sie schenkt ihrer kleinen Schwester ein liebevolles Lächeln, als sie mit wippenden Zöpfen und funkelnden blauen Augen in ihrem Kindersitz zur Musik wippt.

Ihre Eltern unterhalten sich leise, doch die Worte dringen nicht zu ihr durch, sind nicht für sie bestimmt. Sie widmet sich wieder der Aussicht, atmet tief ein und aus. Das Leben ist schön. Das Leben ist schön. Immer wieder sagt sie diese Worte zu sich selbst und doch spürt sie bereits den drohenden Alltagstrott, der sie verschlingen wird, wenn sie zuhause ankommen.

Die kurze Auszeit hat ihnen allen gutgetan, hat sie enger zusammengeschweißt und ihnen die schönen Seiten des Lebens gezeigt. Sonnenuntergänge am Strand, schmelzendes Eis, das über braungebrannte Haut läuft und lautes, echtes Lachen, das den eigenen Körper von den Fingerspitzen bis zu den Zehen mit seinem Prickeln erfüllt.

Das leise Klacken des Blinkers kündigt an, dass sie jetzt von der Autobahn abfahren. Sie lehnt sich in ihrem Sitz zurück, lässt ihre Gedanken zu all den schönen Momenten schweifen und sperrt sie fest in ihrem Herzen ein. Dort sind sie sicher verwahrt und sie kann sie jederzeit hervorholen, wenn sie sich wieder frei und unbeschwert fühlen möchte.

Die Straßen werden immer schmaler, je weiter sie sich von der Autobahn entfernen. Helle, weite Felder weichen düsteren Wäldern. Die Sonnenstrahlen erreichen den Boden nicht. Eine diffuse Dunkelheit beherrscht die Straße und die Bäume scheinen näher zu rücken.

Eine Gänsehaut läuft ihr den Rücken hinunter, doch ihre Familie scheint nichts von der plötzlichen Veränderung zu bemerken. Sie schiebt es auf ihre Anspannung, ist sich sicher, dass sie einfach nur erschöpft ist. Sie kneift die Augen fest zusammen und versucht, sich zu entspannen, nicht durchzudrehen.

Dann ein seltsames Kreischen. Ein heftiger Ruck als das Auto von der Straße abkommt. Sie reißt die Augen auf. Die Welt um sie herum scheint stehengeblieben zu sein und sich doch unendlich schnell weiterzubewegen. Sie kann nichts tun außer schreien, als das Auto sich an einem kleinen Abhang überschlägt, die Baumreihen immer näher kommen und das Auto mit ihrer Finsternis zu ersticken scheinen.

Dunkel. Hell. Dunkel. Hell. Holpern. Schreie. Schreckliche Schreie. Ein Rummsen. Dann nichts mehr.

Alles wirkt verschwommen und auch Blinzeln bringt nichts. Ein Klingeln in ihren Ohren lässt sie keine Umgebungsgeräusche wahrnehmen. Stechende Schmerzen als sie den Kopf dreht. Verschwommene Schemen. Sie streckt die zitternde Hand nach ihrer Schwester, ihren Eltern, irgendjemandem aus. Spürt Haut, Kleidung und etwas Warmes, Flüssiges. Sie schließt am ganzen Körper bebend die Augen, versucht, nicht zu hyperventilieren.

Als sie die Augen langsam wieder öffnet, nimmt sie ihre Umgebung zum ersten Mal wirklich wahr. Die seltsame Düsternis. Die Glassplitter. Die Körper ihrer Familie, die wie Puppen in ihren Sicherheitsgurten hängen. Die Hand ihrer kleinen Schwester nur Zentimeter von ihr entfernt, als hätte sie nach ihr gegriffen. Und Blut. Da ist so viel Blut.

Sie öffnet den Mund und schreit aus ganzer Seele.

Sie sieht die Gestalt im weißen Sweatshirt nicht, die ihr Gesicht hinter einer schwarzen Maske versteckt und sich zwischen den Bäumen entfernt. Und sie hört auch nicht die leisen Worte, die von den Bäumen nahezu verschluckt werden: „Wir werden uns bald wiedersehen, Kayla".


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⏰ Letzte Aktualisierung: Apr 24, 2022 ⏰

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