»Warte!«, schrie der Minutenzeiger dem Sekundenzeiger hinterher. Seine Stirn schweißgetränkt, obwohl es in der großen, flachen Glaskuppel, in der sie gefangen zu sein schienen, nicht mehr als 8 Grad haben musste.
Aus einer Distanz, die die Minute nicht orten konnte und nur aufgrund des widerhallenden Echos eine triviale Lokalisierung möglich war, hörte sie ihren Kontrahenten rufen: »Du hast zwei Möglichkeiten, mit mir friedlich in dieser Kuppel zu leben,« die aggressive Stimme der Sekunde ließ die Minute vermuten, dass eine der zwei Optionen nicht Kuchenessen beinhaltete, »erstens, du leckst meinen pickligen Hämorrhoidenarsch und hältst die Klappe oder du machst Unmögliches wahr und gewinnst das Rennen!«
Am Boden zogen - langsam, mit großer Sicherheit langsamer als beim Sekundenzeiger - in ungleichen Abständen wie bei einer defekten, Diashow Pünktchen und Zahlen vorbei
(...3...4...5...6...), die wohl die bisher gelaufene Strecke optisch darstellen sollten; himmelwärts sah er keinen blauen Himmel am Tage oder Sterne in der Nacht, obgleich er selbst einem trüben Regenschauer dem ausdruckslosen Nichts vorziehen würde. Stattdessen sah er hinter der unsichtbaren Kuppel nur hastige Bewegungen, als hätte jemand die Erdkugel genommen und ein paar Mal durchgeschüttelt.
»Ich kann gegen dich das Rennen nicht gewinnen! Ich vermag es nicht einmal, über meine Füße zu stolpern oder kehrt zu machen, so eingeschränkt bin ich in meinem Handeln!«, protestierte er, doch eine Antwort blieb verwehrt. Stattdessen hörte er aus seinem Inneren wieder dieses andauernde, unsympathische Ticken, doch sonst nichts.
Als der Minutenzeiger das Gesagte mit ängstlichem, aber lauterem Tonfall wiederholte und dabei das letzte Quäntchen Mut beilegte, kam doch noch eine Antwort. Die Stimme des Sekundenzeigers - wenn diese abscheuliche, dämonenähnliche Kreatur überhaupt eine Stimme hatte - ächzte in seiner Überlegenheit, kam aber näher, dessen war sich die Minute bewusst.
Wo war sie nun?
Was würde die Sekunde mit mir machen?
Doch es dauerte nicht mal eine einen Schritt für die Sekunde, um beider dieser Fragen beantwortet zu bekommen, denn der Hauch des Sekundenzeigers streifte den Nacken des Minutenzeigers, bis dessen Haare sich versteiften. Etwas Kaltes und Metallisches berührte seinen Rücken; bevor ein Angstschrei aus seinem Mund kam, fand der Kontrahent des Minutenzeigers zuerst die Wörter: »Du Scheißkopf hast die Regel gebrochen.«
Der laute Schuss ließ die Glaswand vibrieren und schon bevor der tote Kadaver des Minutenzeigers in der eigenen Blutlache zuckte, hatte ihn der Sekundenzeiger auch schon wieder überrundet.
Es würde noch eine Weile dauern, bis jemand die Leiche findet.
Minuten.
Wenn nicht sogar Stunden.
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Werwölfe im Morgenmantel
Historia Corta"Davor musst du doch keine Angst haben .... Monster gibt es doch gar nicht!" Das Monster der Erwachsenen, das Monster, welches sich in unseren Gehirnen von nahrhafter Angst ernährt, setzt sich zusammen aus beruflichen, sozialen und finanziellen Sorg...