III

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Torys Welt war schon wieder laut.
Doch dieses Mal schien all der Lärm nicht nur in ihrem Kopf zu existieren, sondern tatsächlich von außen an ihre Ohren zu dringen. Tory stöhnte und richtete sich langsam auf.

Sie saß in einer riesigen gläsernen Kugel. Der durchsichtige Boden, auf dem sie lag, war ganz weich. Am liebsten wollte sie sich wieder hinlegen.
Stattdessen stand sie auf und schaute sich um. In der Mitte der Kugel befanden sich zwei befremdliche Konstruktionen. Sie waren sehr groß, glänzend weiß und erinnerten entfernt an Foltergeräte.

Vorsichtig näherte Tory sich den seltsam flachen Platten, die in der Mitte der Kugel schwebten.
Sie ging, nein sie schwebte eher, darauf zu.
Beinahe erlitt sie einen Herzinfarkt, als sie die dunkel gekleidete Person am Fuße eines der beiden Gestelle bemerkte. Sie wich einige Schritte zurück, doch das Wesen schien sie nicht bemerkt zu haben.
Tory sah sich um, aber eine Tür gab es nicht. Sie war eingesperrt. Frustriert wandte sie sich wieder der Gestalt zu.

»Setz dich doch.«

Tory zuckte erschrocken zusammen und wich noch zwei Schritte zurück, als sie diese unglaubliche Stimme vernahm. Doch wie sie feststellen musste, war sie nicht mehr ganz so pompös, nicht mehr allzu durchdringend und fast schon irgendwie angenehm vertraut. Also fasste sie sich ein Herz und ging auf eines der Gestelle zu. Sie runzelte die Stirn, während sie herauszufinden versuchte, wie man sich auf diese Fläche setzen sollte.

»Einfach anlehnen.« wies das Wesen sie an. Tory zögerte kurz, drehte sich dann aber um und lehnte sich an die weiße Platte.
Eine gemütliche Wärme umhüllte sie, strich an ihren Gliedern entlang und zog sie tief in eine zärtliche Umarmung. Tory seufzte.
Als sie die Augen wieder öffnete, stand sie dem riesigen Wesen genau gegenüber.

»Also, Victoria, was...«

»Tory.«

»Wie bitte?«

»Ich werde Tory genannt.«

»Tory?« Das Wesen legte den Kopf schief. »Ein seltsamer Name.«

»Pfft.« machte Tory nur, fragte dann aber schnell weiter: »Wie heißt du jetzt eigentlich?«

»Ich... habe keinen Namen. Ich bin am Ende, aber ich bin nicht...«

»Jaja, das hatten wir alles schonmal.« Tory verdrehte die Augen. »Aber so kann ich dich doch schlecht nennen! Ich kann doch nicht jedes Mal 'Ich bin am Ende, blah blah' sagen, wenn ich was von dir möchte.«

»Wie kommst du darauf, dass du mich noch ansprechen wirst?«

»Entschuldige mal, ich sitze bei dir fest! Und ich will dich wenigstens einmal ansprechen, um dich höflichst darum zu bitten, mich auf der Stelle wieder zurück nach Hause zu bringen.«

Das Wesen zeigte keine Regung, es sah sie einfach nur schweigend an.

»Oh Mann! Na gut, dann...« sie seufzte entnervt. »Dann nenne ich dich eben ‚Ende', was hältst du davon?«

Das Wesen legte den Kopf schief.

»Und was sind deine Pronomen?«

»Ich habe keine Pronomen. Das ist ein abstruses Konstrukt, das sich die Menschen zur Verkomplizierung ihres befristeten Daseins erschaffen haben.«

Tory stockte kurz. Sie musste dem Wesen recht geben, und auch sie fand Pronomen schon immer viel zu anstrengend. Leider war sie aber nicht in der Lage, sich eine Sprache, ohne solche anzueignen - oder zumindest hatte sie es noch nie versucht.

»Wie du eventuell bereits bemerkt haben dürftest, bin ich aber ein Mensch. Und ich brauche ein Pronomen für dich. Aber wenn's dich eh nicht interessiert, dann sag ich einfach ‚es', in Ordnung? ‚Das Ende' - klingt doch ganz nett.«

Das Ende drehte sich um und sprach über die eigene Schulter: »Wenn es dir so besser gefällt, dann tu das.«

Tory nickte und grinste. Das Ende begab sich auf die seltsame Liegefläche ihr gegenüber und lehnte sich daran.
Die Fläche bewegte sich auf einmal, als wäre sie flüssig geworden. Sie schmiegte sich an den Körper des Endes; umhüllte es, aber nicht so, dass es sich gar nicht mehr bewegen könnte. Tory verglich sie gedanklich mit einer äußerst praktischen Decke.
Das Ende wirkte nicht mehr so gigantisch und furchteinflößend, wie bei ihrer ersten Begegnung, doch nun konnte Tory deutlich die immense Größe und die ungewöhnlich dürren Glieder erkennen.

»Bereit?«

»Wofür?«

Das Ende musterte sie einen langen Augenblick lang.
Dann richtete sich die Halterung, auf der es lag, langsam in die Senkrechte und Tory spürte, wie dasselbe mit ihrer Liegefläche passierte. Sie dachte schon, sie müsse gleich runterfallen, aber die flüssige Decke hielt sie. Einen kurzen Moment fragte sie sich, ob sie überhaupt einen Sog in Richtung Boden verspürt hatte, aber als sich die Kugel in Bewegung setzte, war es nicht mehr wichtig.

Das Glas verdunkelte sich, Umrisse entstanden und bald konnte Tory überall um sich herum eine dunkle Straße erkennen, als stünde sie mittendrin. Nur die leichte Verzerrung durch die Krümmung der Kugel ließ alles etwas surreal wirken.

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Spärliches Licht fällt von den hohen Straßenlaternen hinunter, nur durchbrochen von zarten Regentropfen. In der Luft hängt der erdige Geruch eines sommerlichen Gewitters.
Zwei Gestallten rennen vom Ende der Straße auf sie zu, sie lachen und eines der Mädchen singt laut ein altes Kinderlied. Vor einem der Tore zu den üppigen Vorgärten halten sie an und als sie sich in die Augen schauen, scheint der Rest der Welt für einen Moment zu verstummen.

»Ich liebe dich, Tory.« flüstert die junge Frau in dem süßen, roten Abendkleidchen. Das andere Mädchen - Tory - tritt einen Schritt vor, schlingt ihre Arme um sie und vergräbt ihren Kopf in ihrer Halsbeuge.

»Ich dich auch.«

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Der Regen wurde immer kräftiger und bald schon konnte Tory nicht mehr erkennen als die dicht wirbelnden Schleier.

Sie lächelte. Nur allzu gut konnte sie sich an diesen Augenblick erinnern.

»Was war das?« fragte sie an das Ende gewandt.

»Ist das nicht offensichtlich?«

Tory dachte eine ganze Weile an das eben Gesehene zurück. Ihr Herz pochte schneller bei der Erinnerung an das dumpfe Grollen des Gewitters und den süßen Duft von Vanillekakao, den ihre fürsorgliche Mutter den Frauen bereits vorbereitet hatte. Trotz ihres Alters und auch trotz der Tatsache, dass sie eine eigene Wohnung besaß, kehrte Tory noch immer regelmäßig bei ihren Eltern ein, besonders wenn es Gewitterte. Und immer wartete lauwarmer Vanillekakao auf sie.

Tory fühlte sich wohl und geborgen bei dem Gedanken.

»Das war meine Erinnerung.« 

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990 Wörter

Way back HomeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt