1.2 - Sannes Überredungskünste

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»Was hast du denn plötzlich? Ist dir nicht gut?«

»Alles gut«, murmelte Jella, zog ihre langen dunkelbraunen Haare unter dem bunten Tuch, das sie sich um den Hals geschlungen hatte, hervor und warf sie über die Schulter. Sie sah ihre Freundin entschuldigend an. »Ich weiß auch nicht, es ist nur... Vielleicht drehe ich einfach nur durch.«

Die kleinere, zierliche Frau lachte hell auf. »Allerdings, das unterschreibe ich sofort! Du bist einfach zu lange nicht mehr unter Menschen gekommen! Klar, dass du dich ständig beobachtet fühlst. Wer sonst nur Schreibtisch und seine Wände als Gesellschaft hat, muss doch bei mehr als drei Menschen die Krise bekommen!«

»Nein, es ist nur...«

Jella musterte die entgegenkommenden Menschen, sah sich unauffällig um, doch sie konnte nichts entdecken, nur den üblichen Trubel. Seit Tagen hatte sie immer wieder stechende Kopfschmerzen gehabt, aus dem Nichts heraus, dann waren sie plötzlich wieder weg gewesen.

Sie ließ den Kopf sachte kreisen. Seit diesem blöden Fahrradunfall vor bald zehn Tagen schien ihr Körper verrückt zu spielen. Natürlich war sie nicht zum Arzt gegangen, das tat sie nie. Die kleinen Verletzungen des täglichen Lebens vergingen einfach zu schnell bei ihr. Dieses Mal jedoch war sie von einem rechts abbiegenden Lkw eines Paketauslieferers an einer Ampel vom Fahrrad geholt worden. Der Helm hatte zwar ihren Schädel, aber natürlich nicht ihren Rücken geschützt und so hatte der Asphalt ihr tiefe, brennende Kratzer auf der linken Seite verpasst, die zwar verheilt waren, aber doch immer noch ziepten. Und nicht nur das - kurz nach dem Fahrradunfall hatte es begonnen, das, was einfach nicht sein durfte.

Zuerst war sie felsenfest davon überzeugt gewesen, dass sie sich getäuscht und keine blassblauen Flammen gesehen hatte, die über ihre Unterarme gezüngelt waren. Wie oft sah man schließlich aus den Augenwinkeln ein Blitzen und stellte fest, dass es nichts zu bedeuten hatte? Doch sie waren da gewesen, erst kleine Blitze, mittlerweile waren es zwar kleine, aber doch ausgewachsenen Flammen, die mit einem unangenehmen Hitzegefühl einhergingen. Mit ihnen hatte sich Unruhe in ihren Körper eingenistet, eine kaum greifbare Spannung, die sie schlecht schlafen und bei Nichtigkeiten gereizt reagieren ließ.

Am Vortag hatte ein Arbeitskollege sie dermaßen erschreckt, dass sie gerade noch die Hitze bemerkt hatte, die ihr in Wangen und Glieder geschossen war. Sie hatte in den Waschräumen verschwinden können und hatte minutenlang Wasser über ihre Arme laufen lassen, damit bloß dieses tückische Brennen verschwand. Es war wie ein Fieber, ausgelöst von irgendetwas, das in ihr schlummerte, etwas, das sie nur mit bloßem Willen im Schach halten konnte, zumindest hatte sie es gekonnt - bis vor ein paar Tagen.

Jella rieb sich den Nasenrücken und seufzte tief. Sie würde dem nicht nachgeben, würde sich nicht dieser Glut hingeben, das durfte sie nicht, denn die Glut war böse, so hatte es ihr Vater beigebracht. Böse.

»Du musst mal wieder raus kommen!«, drang Sannes Stimme durch ihre Gedanken. »Dann kommst du auf andere Gedanken!«

Vielleicht hatte sie Recht, befand Jella. Vielleicht musste sie ihre wirren Gedanken und Befürchtungen einfach nur mal mit einer gehörigen Portion Alkohol runterspülen? Nein, das würde sie die Kontrolle verlieren lassen. Ihr Fieber war da unerbittlich, wie ein flüsternder Dämon, der sie an ihre Grenzen treiben wollte. Wegtanzen würde sicher auch funktionieren.

»Immerhin habe ich ja meinen persönlichen Tarnumhang dabei!«, murmelte sie und grinste ihre Freundin versöhnlich an.

Was andere Frauen vielleicht als Albtraum empfanden, war ganz nach Jellas Geschmack: Sanne war eine ausgesprochen schöne Frau, die Sorte Frau, die bei Männern Sabbern hervorrief und Beschützerinstinkt und Jagdtrieb gleichzeitig weckte. Wenn sie mit ihr unterwegs war, schien sie selbst unsichtbar, was angesichts der zwanzig Zentimeter Größenunterschied zwischen ihnen beiden seltsam wirkte. Sanne war eine rotblonde, Einsfünfundsechzig kleine zierliche Elfe wie aus dem Bilderbuch und hatte blaue, leuchtende Augen, die vergnügt funkelten und sie mit tiefschwarz getuschten Wimpern anklimperten.

Blutsilber - Die Zeichnung der FeuerträumerinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt