Du

5 1 0
                                    

Es war mitten in der Nacht, als du plötzlich mit Tränen überströmtem Gesicht in unser Zimmer gestürmt warst. Die Klamotten, die du anhattest, zogst du dir schnell über den Kopf und schmisst sie in die nächst beste Ecke, und verwirrt beobachtete ich deine hastigen Bewegungen.
„Ich hasse es!", schriest du in den Raum.
„Und ich hasse dich!", schriest du mich an.
Ich antwortete nicht, und sah an dir herab. In Unterwäsche standest du vor mir, doch es wirkte, als wolltest du deinen Körper vor mir schützen. Deine Gesichtszüge waren vor Wut und Ekel total verzogen.
„Warum siehst du so aus? Warum kannst du nicht anders aussehen? So wie die anderen, oder einfach anders, nur nicht so, wie jetzt! Nur wegen dir ist alles schief gelaufen, wegen dir, hörst du!?"
Ja, ich hörte dich, und ich verstand nicht. Ich schaute mit dir zusammen an mir herab, doch ich verstand ganz und gar nicht was du meintest. Ich sah doch ganz normal aus? So, wie ich nunmal aussah. Wie sollte ich auch sonst aussehen?

„Hast du dir mal deine Nase angeschaut!? Die ist viel zu groß! Deine Augen sind auch  viel zu klein und deine Lippen viel zu trocken, wer würde die jemals küssen wollen!? Jeder, der deine Akne sieht, muss brechen! Und deine Beine erst, pah, von denen brauch ich gar nicht anfangen, ist ja klar das dich keiner mag!", fluchtest und beleidigtest du weiter, und deutetest auf jedes Körperteil das du ansprachst.
„Ich hasse das an dir! Und das! Und das!", machtest du weiter, doch du klangst nicht mehr halb so wütend wie am Anfang. Du klangst traurig und verletzt, das Atmen fiel dir vor lauter Weinen schwer, und ich verstand immernoch nicht was du von mir wolltest.

Immerhin kannten wir uns doch schon unser ganzes Leben lang. Meine Nase sah schon immer so aus, aber eigentlich hatte ich sie immer gemocht, denn sie sah so einzigartig aus und doch eigentlich ganz niedlich. Meine Augen waren auch gar nicht klein, ich verstand gar nicht, wieso du dachtest sie wären es. Meine Akne war auch nichts, was irgendjemanden störte.. so viele Menschen hatten sie, und das machte sie doch komplett normal und natürlich. Und das mich keiner mochte stimmte doch auch nicht.. im Gegenteil, es schien, als würdest nur du mich nicht mögen.
Ich verstand auch nicht wieso du so gemein zu mir warst, ich hatte dir doch gar nichts getan. Und sonst redetest du mit niemandem so, außer mit mir. Sonst achtetest du auch bei niemandem so sehr auf jede Kleinigkeit, wieso also bei mir? Ich dachte, ich wäre dir wichtiger. Ich dachte, ich würde dir mehr bedeuten. Und ich wünschte, ich täte es, denn ich war mir sicher, dass ich es Wert war.

„Ich wünschte, du wärst jemand anderes..", schluchztest du leise, „Jemand anderes, nur nicht ich", weintest du, und warfst deinem Spiegelbild einen verzweifelten Blick zu.

Dabei wollte ich doch nie jemand anderes sein, sondern immer nur du.

Du hast das Ende der veröffentlichten Teile erreicht.

⏰ Letzte Aktualisierung: Jun 11, 2022 ⏰

Füge diese Geschichte zu deiner Bibliothek hinzu, um über neue Kapitel informiert zu werden!

To Put It ShortWo Geschichten leben. Entdecke jetzt