1 - Mara
„Kannst du jetzt mal aufhören ständig so ein Gesicht zu machen?", ranzt mich mein bester Freund an.
„Das ist mein Gesicht. Leb damit.", antworte ich. Wenn ihm mein Gesicht nicht passt, dann soll er woanders hingucken – den Gedanken verkneife ich mir aber.
„Du guckst in letzter Zeit immer nur genervt. Richtiges Resting Bitch Face.", ergänzt er seinen Kommentar.
„Hör doch mal auf mir auf den Geist zu gehen, Noah.", antworte ich wieder. Noch genervter als vorher. „Ich verzieh mich."
Ich nehme meine Sachen und stampfe wütend davon. Er hat ja recht. Irgendwas stimmt mit mir nicht. Seit ein paar Wochen kreisen meine Gedanken um die Frage, was ich hier mache. Ich stehe kurz vor meinem Master in Kriminalpsychologie und könnte so viele Wege damit einschlagen. Doch ich kann mich dazu nicht motivieren. Ja verdammt - ich verstehe die Leute, die austicken und ihre Familien umbringen.
Ich würde meine Familie nie umbringen – auf keinen Fall. Wir haben zwar kaum Kontakt, aus gutem Grund, aber ich habe keinen Grund sie umzubringen. Aber diese Typen, die wir studieren und deren Verhalten wir auseinandernehmen, analysieren und interpretieren – die verstehe ich. Man muss das alles im großen Kontext betrachten. Für meine letzte Hausarbeit, in der ich genau begründet habe, wieso ich den Frauen die Schuld gebe, die sich Ted Bundy hingegeben haben, habe ich die wohl größte Rüge der gesamten Universität bekommen. Meine Hausarbeit hat ein Veröffentlichungsverbot erhalten und ich musste zum Uni-Psychologen.
Ich gehe den Weg bis zu meiner kleinen Wohnung in der Nähe des Campus und komme dabei jeden Tag an den gleichen Gebäuden vorbei. Doch heute steht vor einem der Häuser ein großer LKW. Zwei Männer laden einen massiven Eichenholztisch aus und schieben ihn mithilfe von einem Rollenbrett über die Straße. Ein gutaussehender Mann, ich schätze ihn auf Mitte 40, beobachtet das Spektakel und schreit dem einem Männer zu, er möge doch bitte vorsichtiger sein. Das sei immer hin Echtholz. Ich bleibe stehen und beobachte belustigt weiter.
Der Mann ist etwa anderthalb Köpfe größer als ich. Was nicht schwer ist, weil ich nur 1,69m bin. Er ist außerdem gut gebaut, schlank, aber nicht knochig, die Haare leicht grau aber noch nicht komplett. Man kann die Naturhaarfarbe, vermutlich braun oder sehr dunkles blond, noch vermuten. Unter seinem Hemd, garantiert Seide, zeichnen sich leichte Umrisse von einer vorhandenen, trainierten Armmuskulatur ab und ich muss mich sofort fragen, ob der Rest seines Körpers auch so gebaut ist. Hey, das ist nicht abartig oder so – ich bin immerhin 26.
Ich fasse meinen Mut zusammen und gehe zu ihm; will ihn in der Nachbarschaft willkommen heißen, auch wenn ich noch 3 Häuser weitermuss.
„Hi.", spreche ich ihn direkt an. „Grade am Einziehen?"
„Oh Hallo. Ja sozusagen.", antwortet er mir mit weicher Stimme. Sie ist tief und warm. Und geht mir direkt unter die Haut.
„Ich dachte in dem Gebäude sind nur Büros.", gebe ich mein Wissen zum Besten.
„Sind es auch. Ich richte hier meine Praxis ein."
„Oh schön. Was für ein Arzt sind Sie?"
„Psychiater.", sagt er und kratzt sich am Kopf. „Ja ja ich weiß. Ich wühle in den Köpfen anderer rum und hinterlasse nur Suppe."
„Und ich analysiere die Suppe dann, wenn ihr Versuppter wen umbringt.", sage ich und er schaut mich komplett entgeistert an.
„Bitte?"
„Entschuldigung, das sollte ein Witz ein. Ich studiere an der Uni nicht weit von hier. Ich mache meinen Master in Kriminalpsychologie.", ergänze ich und sein verwirrten Ausdruck wird weniger verwirrt.
„Oh wow. Das ist wirklich interessant.", sagt er und klingt ernsthaft interessiert.
„Wenn Sie eingerichtet sind, würde ich gerne mal vorbeikommen. Vielleicht können Sie mir ja ein paar Fragen beantworten.", gehe ich in die Offensive. Ja, ich flirte und entweder merkt er es und lässt sich nichts anmerken oder er merkt es wirklich nicht.
„Ähm... ja na klar. Rufen Sie mich doch nächste Woche mal an. Da eröffne ich offiziell.", sagt er und drückt mir seine Karte in der Hand, die er in Windeseile aus seinem Portemonnaie gefischt hat.
„Doktor Damian Huxley?", lese ich vor und ziehe die Augenbrauen hoch.
„Man spricht es englisch aus.", korrigiert er mich.
„Oh, Entschuldigung. Sind Sie Engländer?"
„Volltreffer.", erklärt er.
Ich stecke die Karte ein und verabschiede mich. Als ich ein paar Schritte von ihm entfernt bin, drehe ich mich erneut um und sehe ihm noch kurz zu, wie er die Packer hin und her schickt. Ich nehme mir fest vor, ihn anzurufen.