Verpasste Gelegenheit - Kapitel 2

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„Sind sie umzugsbereit?", fragt mich die adrett gekleidete Frau, die mir gegenüber an dem Schreibtisch sitz. „Das bin ich. Ich kann nächsten Monat anfangen", bestätige ich und hoffe inständig, dass diese Frage auf ihr Interesse hindeutete. Ich blicke in das freundliche Gesicht der älteren Frau und versuche irgendeine Regung auszumachen, doch vergeblich. Sie nickt lediglich und widmet sich wieder meinen Vorstellungsunterlagen. Nach einer gefühlten Ewigkeit blickt Frau Meyer wieder auf. „Gibt es von Ihrer Seite aus noch Fragen?" Habe ich die Stelle? „Können Sie mir etwas über das Team erzählen?" Mit dieser Frage hat die Kindergartenleitung anscheinend nicht gerechnet. „Natürlich." Ihr aufgesetztes Lächeln vertieft sich zu einem echten Lächeln und sie erzählte mir über die pädagogischen Fachkräfte, die in dem Kindergarten Fairytale Forest arbeiten. So langsam bekomme ich einen Überblick über die Einrichtung. Ich würde die einzige Vollzeitkraft in der Gruppe sein, aber das macht mir nichts aus, bestätige ich ihr auf ihre Frage hin. In meinem jetzigen Beruf konnte und wollte ich nicht länger bleiben, vermutlich würde ich den Laden auch allein schmeißen. Aber das behalte ich natürlich für mich. Außerdem zog es mich schon lange zurück in meine alte Heimat. Wenig später verabschiedet Frau Meyer sich mit dem Versprechen, sich die nächsten Tage bei mir zu melden. Als ich zurück auf den Flur trete, sehe ich bereits die nächste Bewerberin dort stehen. Ihre selbstsichere Ausstrahlung verunsichert mich sofort. Doch ihr wehre mich gegen den Reflex, den Kopf einzuziehen, stattdessen mache ich mich groß und setzte ein Lächeln. "Viel Glück." Mein Weg zum Ausgang führt mich geradewegs an den Garderoben der Kinder vorbei. Ich bin erstaunt über die Ordnung, die hier herrscht. In meinem Kindergarten sah es immer aus, als wäre ein Tornado durch die Zimmer gefegt. Alle Jacken hängen an den dafür vorgesehenen Haken und die Schuhe stehen auf ihren Plätzen. Ich entdecke, dass sogar jedes Kind ein eigenes Fach und einen eigenen Hacken hat. In meinem alten Kindergarten gab es das nicht. Die selbstgebastelten Namenschilder sind sogar mit kleinen Bildchen versehen. Der Kindergarten scheint zu versprechen was er hält. Ich seufze. Zu gern hätte ich diese Stelle. „Hab dich!", ertönt eine Stimme hinter mir. „Gar nicht wahr!" Und schon zischt ein kleiner Junge rechts an mir vorbei. Er streift meinen Arm und kommt ins Taumeln, schafft es aber sie abzufangen und weiter zu rennen. Der zweite junge weicht mir in großem Bogen aus und stolpert vor lauter toben gegen ein Mädchen, dass gerade dabei war, ihre Hausschuhe auszuziehen. Der Junge springt im selben Moment wieder auf und läuft weiter, seinem Spielkameraden hinterher. Nichts passiert, denke ich erleichtert, als ich plötzlich ein leises Schluchzen vernehme. Ohne zu zögern gehe ich auf das Mädchen zu und knie mich in etwas Abstand neben sie ab. Sanft frage ich, ob sie Schmerzen hat. Nur zögerlich streckt sie mir ihre kleine Hand entgegen. „Ist der Junge dir auf die Hand getreten?" Ein Nicken. „Dann hol ich dir schnell was zum Kühlen, dann tut es ganz bald nicht mehr weh." Erst nachdem ich die Worte ausgesprochen habe, fällt mir auf, dass ich gar nicht weiß, wo die Kühlakkus sind. Ein feuchtes Tuch wird es auch tun. Als ich mit dem befeuchteten Papier aus der Toilette zurückkomme, sehe ich einen Mann neben dem Mädchen knien. „Ein Junge ist beim Spielen auf ihre Hand getreten. Ich habe ihr ein nasses Tuch zum kühlen geholt.", informiere ich den Erzieher. Langsam dreht er seinen Kopf und blickt mich mit seinen dunklen Augen an. Augen, die mir wahnsinnig vertraut vorkommen. „Hallo Nora.", seine tiefe Stimme weckt alte Erinnerungen. Nein, nicht ganz. So tief war seine Stimme früher nicht gewesen. Dennoch blitzen Erinnerungsfetzen einer gemeinsamen Vergangenheit vor meinem inneren Auge auf. „Hallo Dan", kommt es mir stotternd über die Lippen. „Mit dir habe ich hier gar nicht gerechnet." Dan streckt mir die Hand hin und ich reiche ihm meine. „Das Tuch.", sagt er und grinst frech. „Oh, richtig." Ich merke, wie mir die Röte in die Wangen schießt. „Danke." Als er seine volle Aufmerksamkeit wieder dem Mädchen zuwendet, wird aus seinem Grinsen ein liebevolles Lächeln. „Hier Prinzessin." Sanft legt er ihr das Tuch auf die Hand, welches sie mit ihren eigenen zarten Fingern umschließt und festhält. Schließlich setzt er sich neben sie auf die niedrige Holzbank. „Danke nochmal." „Selbstverständlich." „Das ist übrigens Anna. Meine Tochter." Ich kann den Stolz in seiner Stimme hören. Jetzt wo ich genauer hinsehe, erkenne ich, dass das Mädchen die gleichen dunklen Augen und langen Wimpern besitzt, wie ihr Vater. Auch der Mund weist eine stake Ähnlichkeit auf. Nur die zarte Stupsnase muss sie von ihrer Mutter haben. „Hallo Anna.", erwidere ich und lächle dem Mädchen zu. „Ich bin Nora." Für einen kurzen Moment sehe ich in Dans Augen Unsicherheit aufblitzen. Sein Blick gleitet zu seiner Tochter. Er versucht es zu verbergen, aber für mich ist er noch immer wie ein offenes Buch. Die Falten, die sich auf seiner Stirn bilden sind Zeugen seiner Angst. Aber wovor, frage ich mich. In diesem Moment setzt blickt mich Anna an, hebt ihre zarten Hände und formt langsam in Gebärdensprache ein Hallo und zeigt mir ihren Gebärdennamen. Langsam dreht sich Dans Kopf wieder zu mir. Ich verstehe. Auch ich buchstabiere nun mein Name und zeige Anna meinen Gebärdennamen, der dafür da ist, dass man nicht jeden Namen buchstabieren muss. Anna lächelt und wendet sich wieder ihren Hausschuhen zu. Ich schaue zu Dan, dessen unischere und fast schon misstrauische Mimik einem herzlichen Lächeln gewichen ist. Dachte er wirklich...? Ich will diesen Gedanken gar nicht zu Ende denken. Ich spüre wie sich mein Magen vor Enttäuschung zusammenzieht. Ich wende meinen Blick schnell wieder ab, ich kann ihm nicht ins Gesicht schauen. Während Dan auf seine Tochter wartet, stehe ich unbeholfen in dem ansonsten leeren Flur. Du weißt nicht, was Dan in den letzten Jahren erlebt hat, ermahne ich mich. Als Erzieherin kenne ich mich sehr gut aus, mit den Vorurteilen und abwertenden Haltungen von vielen Erwachsenen gegenüber den Kindern mit Einschränkungen in meinem ehemaligen KiGa. Und dennoch. Ich habe gedacht Dan kennt mich besser. Ich schüttle den Kopf. Ich möchte mich jetzt nicht in diesem Gedankenkarussell verfangen. Ich gehe vor Anna in die Hocke. Schöne Schuhe, gebärde womit ich dem Mädchen ein stolzes Grinsen entlocke. „Woher kannst du Gebärdensprache?", fragt mich Dan. Die Neugier ist ihm ins Gesicht geschrieben. „In meiner Ausbildung habe ich einen Kurs für Gebärdensprache belegt. Für den alltäglichen Gebrauch reicht mein Wissen." Ich merke selbst, wie sich meine Stimme anhört. Unterkühlt und abweisend. „Ich wollte eben nicht...", setzt er an. „Es ist manchmal nicht so einfach", schließt er und lässt seine Schultern entkräftet hängen. „Ich weiß", sage ich. Ich wusste nicht was ich mehr sagen sollte. Spätestens jetzt, als sich seine gebrochene Haltung und den müden Gesichtsausdruck sah, flogen alle negativen Gedanken und Unterstellungen aus meinem Kopf. Am liebsten würde ich ihn in diesem Moment in den Arm nehmen. Seinen Kopf ganz nah an mich heranziehen und ihn einfach halten. Doch das war vorbei. Unbeholfen wische ich mir einen imaginären Fussel von meiner Bluse. „Was machst du eigentlich hier?", überbrückte Dan die Stille. Dankend antwortete ich ihm: „Ich bewerbe mich als Erzieherin. Sie haben hier eine Stelle frei." „Das heißt, du ziehst wieder hier her?" „Ja." „"Wie schön", flüsterte Dan und wandte sich seiner Tochter zu. Schnell half er ihr, die bunte Herbstjacke zu schließen, deren Reisverschluss zu klemmen schien. „Hast du vielleicht Lust mal einen Kaffee trinken zu gehen?" So überrumpelt, wie ich mich in diesem Moment fühle, schaffe ich es nicht, zu antworten. Lediglich ein Nicken bringe ich zu Stande. „Um das Wiedersehen zu feiern. Und natürlich deinen neuen Job", ergänzte er und setzte sein unwiderstehliches Grinsen auf, dass mich schon früher in seinen Bann ziehen konnte. „Das mit dem Job ist noch nicht sicher, aber ich würde sehr gern mit dir einen Kaffee trinken gehen.", erwidere ich und zücke mein Handy, dass wir unsere Nummern austauschen können.


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