Akten

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Der Tag neigte sich dem Ende zu, die Familie zog sich nach dem gemeinsamen Abendessen in ihre Schlafzimmer zurück. Die Angestellten verschwanden ebenfalls in ihren Zimmern oder gingen nach Hause. Kim, die ein Zimmer im Raum zur Verfügung gestellt bekommen hatte, saß auf dem frisch gemachten Doppelbett und kämmte ihre dunklen Haare durch. Ihr Blick war auf das Ölgemälde an der Wand über dem Bett gerichtet. Es stellte einen Strand da, mit Palmen und einem alten Schiff. Im Hintergrund war ein brennendes Dorf zu sehen, der Himmel war dunkel und aufgewühlt und das Meer stürmisch. Diese Art von Bildern waren überall im Haus zu finden.
Kim erhob sich und legte die Bürste zur Seite. Sie warf einen Blick auf ihr Handy. Mick hatte ihr nicht geschrieben. Sie hatte gehofft, er würde sich wenigstens bei ihr melden, aber so war es fast immer zwischen ihnen: sie war immer diejenige, die den Kontakt zu ihm aufnahm.
Stille kehrte ein in das Haus. Kim zog ihre schwarzen Turnschuhe an und band ihre Haare zu einem Zopf zusammen. Gekleidet in eine schwarze Jogginghose und ein Top verließ sie ihr Zimmer. Wachsam hielt sie Ausschau nach anderen Menschen, doch niemand war zu sehen.

Ungehindert erreichte sie den Bürotrakt, der um diese Uhrzeit wie ausgestorben wirkte.
Vor der Tür des Büros rüttelte sie zunächst am Türknauf, natürlich ging die Tür nicht auf. Ihr war klar gewesen, dass es nicht so einfach werden würde, weswegen sie ihr Dietrichset mitgebracht hatte. Vorsichtig bearbeitete sie das Schloss mit einem Dietrich. Das vertraute Knacken ertönte schon nach ein paar Sekunden. Ein Grinsen erschien auf dem Gesicht der jungen Frau. Das war einfacher als gedacht.
Sie stieß die Tür auf und betrat das Büro. Rundherum standen deckenhohe Schränke voll mit Aktenordnern und in der Mitte stand der übergroße Schreibtisch mit dem Computer, an dem Mr. Michaelson arbeitete.
Kim schloss die Tür hinter sich. Falls jemand an dem Raum vorbeilief, würde er nicht bemerken, dass jemand im Raum war.
Sie überprüfte die Aufschriften auf den Ordnern. Das konnte ewig dauern, so viele Ordner wie es gab.
Einer jedoch fiel ihr sofort ins Auge: In Großbuchstaben stand dort Kriminalakte.
Da sie nach jemanden suchte, den Mr. Michaelson aus dem Gefängnis befreit hatte, zog sie den Ordner aus dem Regal und schlug ihn auf. Natürlich nicht, ohne vorher Handschuhe anzuziehen. Man konnte nie sicher genug sein.
Eilig blätterte sie die Akte durch. Sie konnte sich nicht alles genau anschauen, also überflog sie es. Das Problem war, dass sie kaum Informationen hatte. Sie suchte einen Seawalker, der aus dem Gefängnis geholt worden war. Toll. Das half ihr nicht sonderlich.
"Wo bist du?", murmelte sie, während ihre Augen über das Papier flogen.
Eine Akte ließ sie inne halten. Chase Silverwave. Der Name an sich war merkwürdig, niemals hatte sie jemand getroffen, der mit Nachnamen Silverwave hieß. Und mit Vornamen auch noch Chase - auch wenn das mittlerweile ein relativ normaler Name war. Als sie die Akte durchlas, fielen ihr noch mehr Dinge auf: Es war ein Mann Mitte Dreißig, der vor vier Jahren ins Gefängnis gekommen war, weil er Artenschmuggel betrieben hatte. Sie runzelte die Stirn. Er hatte das illegale Geschäft in Kalifornien betrieben, hatte aber wohl für jemand anderen gearbeitet - jemand, der nicht hinter Gitter gekommen war. Und "entlassen" wurde er vor einigen Wochen.
Kim lächelte zufrieden. "Ich habs", flüsterte sie. Alles, inklusive der Kindheit des Mannes, passte dazu: Es war dokumentiert, aus welchen Verhältnissen Silverwave stammte, jedoch gab es über seine frühere Kindheit nichts zu lesen. Wahrscheinlich, weil er früher als Tier gelebt hatte.

Kim machte ein Foto von der Akte und stellte den Ordner zurück ins Regal. Sie wollte sich nicht zu lange damit aufhalten, in dem Raum herumzustöbern. Natürlich war es eine gewagte Vermutung, denn wenn Silverwave nicht derjenige war, den sie suchte, hatte sie ein Problem.
Sie kehrte in ihr Zimmer zurück und schaute sich dort das Bild noch einmal an. Es war ihre einzige Chance, denn morgen früh würde Mr. Michaelson merken, dass jemand die Tür zu seinem Büro geöffnet hatte.
Ein Zettel war auf die Akte geklebt. Dort stand eine Reihe an Koordinaten. Ob das der aktuelle Standort des Typen war? Schließlich war er wohl durch Michaelsons Eingreifen aus dem Gefängnis gekommen, weswegen sein Standort vielleicht nicht jedem zugänglich sein sollte.

Kim stopfte ihr Handy in ihre Hosentasche und schnappte all ihre Sachen. Zum Glück hatte sie das meiste in ihrem Hotelzimmer gelassen. Sie schlüpfte aus dem Zimmer hinaus in den Flur und huschte zum Eingangstor hinab. Sie war sich nicht sicher, ob sie jetzt überhaupt rauskommen konnte. Womöglich war das große Tor verschlossen.

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