Die Gleise des Lebens

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Iris

„Herr Wuschel..." miaute ich schwach.

Ich lag mit dem Gesicht nach unten auf dem kalten, aschfahlen Beton der U-Bahn.

Uuurrrgghh... Jeder kleine Knochen in meinem Körper musste gebrochen sein.

Ich zuckte zusammen, als sich der Schmerz in meinem Unterkiefer ausbreitete.

Meine Finger strichen über mein Kinn, das höllisch schmerzte. Sie kamen mit hellroten Blutstropfen verschmiert zurück, die sich an ihren Spitzen sammelten.

Autsch.

Dumm wie ich war, umklammerte ich immer noch verzweifelt einen meiner Schuhe.

Wo zum Teufel war der andere?

Keiner hatte meinen Sturz bemerkt. Der menschliche Bienenstock ging seinem eigenen Tagesgeschäft nach.

Die Augen aller Fahrgäste des Zuges in Richtung Süden waren nun auf die klaffenden Türen gerichtet.

Vielleicht war das auch besser so. Ich wollte nicht, dass die Welt mich so sah.

Ich konnte mich nicht bewegen. Und er war weg.

Ein bösartiger Bitte-zurückbleiben-Lautsprecherton überdeckte mein Quietschen.

Mein Flehen konnte die Kluft zwischen uns nicht überbrücken.

„Herr Wuschel!" rief ich noch einmal kraftlos.

Herr Wuschel?

„Du dumme, dumme Kuh." Ich konnte nicht anders, als zu fluchen. Ich war einem Traum hinterhergejagt und hatte mich zum Narren gemacht.

Ich senkte den Kopf, Tränen vernebelten meine Sicht.

Ich blinzelte sie weg und versuchte, aufzustehen. Schmerzwellen übermannten mein linkes Knie. Ich zischte frustriert und setzte mich auf die erste Stufe der Treppe, als sein Zug den Bahnhof verließ.

Die blöden Gleise verhöhnten mich. Sie waren so leer wie mein unaufgeräumtes Leben.

Was für ein Scheißtag.

Ein Paar polierte Schuhe und eine graue Hose traten in mein Blickfeld.

Bereit, den Eindringling anzuschnauzen, blickte ich auf und erschrak. Das zerwuschelte Haar, die eckige Brille—dieses Gesicht würde ich überall wiedererkennen.

Herr Wuschel stand direkt vor mir.

Ich öffnete den Mund, um etwas zu sagen, irgendetwas, aber ein kartoffelgroßer Kloß bildete sich in meiner Kehle und blockierte jedes Wort.

Er hockte sich hin.

So nah.

Seine Hand überquerte den winzigen Spalt, der uns noch trennte, und berührte meine.

Seine Handfläche fühlte sich warm an meinen Fingern an. Der Zauber seiner Locken brachte mich zum Lächeln.

Winzige, lächelnde Fältchen zeichneten sich in seinen Augenwinkeln ab.

Ich könnte darin ertrinken. Für eine Ewigkeit.

Noch nie hatte ich einen solchen Frieden empfunden. Noch nie war ich jemandem so nahe gewesen.

„Zahnspange?", fragte er.

Was ist mit meiner Zahnspange? Ich verbarg meine Zähne, bereit, ihn anzuschnauzen. Aber sein besorgtes Stirnrunzeln hielt mich davon ab.

„Geht es dir gut?", fragte er.

Immer noch sprachlos, brachte ich nur ein stummes Nicken zustande.

Seine Stirn glättete sich, und ein schüchternes Lächeln schlich sich auf seine Lippen. Er hielt einen vertrauten Schuh hoch.

Der Letzte Zug | The Wattys2023 Winner ✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt