Fliederherz

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Fliederherz sah sich um. Es war ein schöner Tag, ein kühler Wind fuhr durch ihr Fell, der Staub funkelte in der Sonne und das Grün des Waldes leuchtete hell, wo Licht auf seine Blätter fiel – doch Fliederherz achtete nicht darauf, und bei dem bloßen Gedanken daran lief ihr ein eiskalter Schauer über den Rücken.

Immer noch nichts gefangen.

Hektisch suchte sie den Waldboden nach Beute ab, fand nichts, lief weiter. Hielt inne, schnupperte, nichts, weiter. Rascheln, von irgendwo her, doch die Maus hatte sie bereits bemerkt und verschwand in ihrem Bau, ehe Fliederherz sie auch nur hätte sehen können.

Mit rasendem Herzen blieb sie stehen und starrte geradeaus. Der Knoten in ihrem Magen zog sich zusammen, das Rauschen in ihren Ohren nahm zu, für einen Moment übertönte es alles auf dieser Welt.

Sie schloss die Augen und sah den Wald. In anderen Farben, aber die Umrisse waren noch dieselben, ein verzerrtes Schattenbild, es verblasste nur langsam, zitternd, in ein pulsierendes Grau, und war verschwunden.

Dann, Stille.

Und dann der Gedanke an Zuhause.
Nein, natürlich nicht an zuhause, zuhause war ja längst etwas anderes – das war kindisch von ihr, was dachte sie sich dabei, es noch „zuhause" zu nennen – was sollte das? Nein, zuhause war nur eine dumme Formulierung, ein dummer Gedankenblitz, mehr nicht, da war nichts mehr, das sie ... nein, zuhause – also nein. Wirklich nicht.

Und doch war der Gedanke da. An Zuhause.

Fliederherz riss die Augen auf. Das Rauschen war abgeebbt, dafür schien der Wald nun zu schreien und zu brüllen. Blätter schlugen aneinander, Äste knarksten, Holz knirschte, Vögel kreischten in den Kronen. Irgendwo raschelte eine Maus.

Sie riss den Kopf herum. Tatsächlich, das Tier war zurückgekehrt, knabberte an ein paar Bucheckern und zuckte dabei ununterbrochen mit der kleinen, spitzen Nase.

Fliederherz sah sie an, die Maus sah zurück, nahm sich eine neue Ecker und flitzte davon.

Augen zu.

Da war sie noch. Ein Schatten, der verblasste. Die Blätter, die Bucheckern, die Maus, alles war noch da, ein paar Sekunden noch, ehe es im endlosen Grau verschwand.

Und da war er wieder, der Gedanke.

Fliederherz schüttelte ihn ab.

Er hielt sich fest.

Sie riss sich los.

Er war stärker.

Vorsichtig öffnete sie die Augen. Der Wald war noch da, mit all seiner Schönheit, all seiner Hässlichkeit, allen Erinnerungen. In alle Richtungen erstreckte er sich, lebte, atmete, hielt alles, das in ihm war, in seinem Bann. Er hatte kein Ende, ein einziges, riesiges, allumfassendes Monster, das alles verschlang, das sich ihm einmal genähert hatte. In alle Richtungen erstreckte er sich.

Nur in eine nicht.

Fliederherz lief und ließ sich treiben, ohne auf die Welt um sich zu achten lief sie einfach, langsam, aber sicher, irgendwohin, nur nicht zurück.

Zuhause.

Eine dunkle Erinnerung, mehr war es nicht mehr – ein Schatten der Vergangenheit, der sie wie ein Gespenst heimsuchte, wann immer er Gelegenheit dazu sah.

Zuhause.

Der Geruch von frisch geschnittenem Gras. Die quietschende Schaukel im Garten. Holzzäune, die alles draußen halten, das gefährlich ist. Das Loch, gerade groß genug, um hindurchzuschlüpfen, die Träume von der Welt danach. Von der Freiheit dahinter.

Zuhause.

Ihre Leute, die sich um sie kümmerten. Die Frau und das Kind, das sie immer anfassen wollte. Das Essen – nicht gut, aber immer sicher. Ihre Freunde, dieser kleine Kater, die alte Katze nebenan. Ihre Namen waren lange verschwunden, doch das Gefühl war noch da. Wie sie sich anhörten. Anfühlten. In ihren Träumen sah sie sie noch vor sich. Spürte ihre Anwesenheit, als stünden sie vor ihr.

Fliederherz hielt inne. Schloss die Augen. Schlug sie wieder auf.

Und Minka rannte los.

Minkas Pfoten trommelten auf den Boden, im Takt ihres Herzens, schnell wie ein Falke und noch schneller, immer schneller, weiter, immer weiter. Voran. Dreh dich nicht um. Sieh nicht zurück. Vor dir liegt die Welt der Freiheit, du hast nichts zu verlieren.

Über den Bach. Sie setzte darüber, der Bach glitt unter ihr hindurch, verschwand hinter ihr, sie sah nicht zurück. Weiter, immer weiter. An der Eiche vorbei, über die Grenze. Sollten sie sie doch riechen. Sollten sie sie doch sehen. Niemand konnte sie einholen. Wie ein Blitz schoss die Welt an ihr vorbei. Wurzeln, Bäume, Farne, Sträucher. Mäuse rannten ihr ihr davon, Vögel stoben erschreckt in die Luft. Minka würdigte sie keines Blickes.

Weiter. Einfach weiter.

Langsam begann die Umgebung vertrauter zu werden. Nicht in dem Sinne, dass sie sie besser gekannt hätte – aber die Luft fühlte sich vertrauter an. Vage Erinnerungen an einen Ort, der sich einmal so geatmet hatte.

Und dann brach der Wald auf. Und da war es – die Dinge hatten sich etwas verändert, sicher, der Baum war gebrochen und die Sträucher gewachsen, und der Zaun war neu gestrichen, etwas dunkler – aber es war noch dasselbe Haus. Dieselben Wände, dasselbe Dach, dieselben Fenster, dasselbe Lachen, das daraus kam.

Selbst das Loch war geblieben.

Fliederherz blieb stehen. Für einen Moment zögerte sie – hinter sich spürte sie noch den Herzschlag des Waldes, ganz schwach, doch noch immer deutlich hielt er sich an ihr fest, dann riss sie sich los.

Und er ließ sie gehen.

Sie war gewachsen, seitdem sie damals den Ort verlassen hatte, doch mit etwas Kraft gelang es ihr, sich durch den Zaun zu drücken.

Auf der anderen Seite erstarrte sie.
Vor ihr, direkt vor ihr, stand eine Katze.
Sie war jünger, deutlich jünger, aber die Ähnlichkeiten ließen sich nicht absprechen. Auch eine Kätzin, natürlich, eine hübschere vermutlich, ebenfalls weiß mit Gesichtszeichnung und dunklen Pfoten. Bauschiger Schwanz, seidenes Fell, wesentlich flauschiger und weicher als das von Fliederherz.

Sie hatten sie ersetzt.

Vorsichtig wich sie zurück, stieß mit dem Rücken an den Zaun. Ihr Fell sträubte sich, ein Prickeln machte sich in ihr breit. Die andere Katze musterte sie. Scharfe, blaue Augen, denen nichts entging.

»Minka!«

Sie stellte die Ohren auf, beide fuhren herum, aber nicht schnell genug, jemand riss sie nach oben, der Boden verschwand.

»Wir dachten schon, wir hätten dich für immer verloren...«

An sie gedrückt, öffnete Minka ein Auge, schielte zu der Katze.

»Das ist deine neue Schwester. Oh, wie sich Max freuen wird! Du bist endlich wieder da!«

Und plötzlich, so plötzlich, dass sie selbst darüber erschrak, hörte das Rauschen auf.

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