2. Kapitel
Auf einmal scheint ihr ein Gedanke durch den Kopf zu schießen, denn sie steht abrupt auf und zieht mich ohne zu fragen auf die Beine. Den schnellen Lagewechsel verträgt mein Kreislauf nicht und mir wird kurz schwarz vor Augen. Als ich mich wieder gesammelt habe, frage ich sie mit zusammengekniffenen Zähnen: „Was war denn das gerade?! Du machst mir eine Scheißangst. Wer ist 'sie' und was ist jetzt soweit?" Wir hatten es gerade so schön und wir haben so geredet wie früher. Und dann aus dem Nichts verfällt sie in alte Muster. Mit dieser zu Sorgen gefalteten Stirn, die sie um Jahre älter macht. Sie lässt meine Frage in der inzwischen kalten Luft stehen und packt mich unsanft am Arm. Nach ein paar Metern reiße ich mich los: „Kannst du mir bitte erklären, was plötzlich los ist?! Ich werde keinen weiteren Schritt gehen, bevor du es mir gesagt hast." Erin kommt auf mich zu und ihre Stimme ist lauter als normalerweise. Sie scheint ihre ganze Kraft in jedes einzelne Wort zu legen: „Wir müssen sofort zu Oliver. Er kann dir Antworten geben." Oliver... seit wann nennt sie meinen Onkel beim Vornamen? Sonst hat sie ihn immer 'Mr. Purd' genannt. Ganz perplex von unserem Wortwechsel, lasse ich mich von ihr in Richtung des Hauses ziehen. Wenn wir jetzt in einem Film wären, könnten die Regisseure nicht stolzer auf unser Farmhaus sein. Es entspricht dem Klischee des amerikanischen Farmerlebens, wie es so oft in Countryfilmen gezeigt wird. Die Außenfassade ist aus Holz gebaut und bei besonders abgenutzten Stellen blättert die weiße Farbe ab. Rund um das Haus bahnen sich Pflanzen jeglicher Art. Am besten gefällt mir dabei eine Ranke, die bis hoch in den ersten Stock meines Zimmerfensters führt. Hinter den Fenstern des Erdgeschosses ist das Innenleben der Küche und des Wohnzimmers zu erahnen. Genau dort, wo sich höchstwahrscheinlich Oliver befindet. Denn in diesem Moment müsste eine Pause sein, bevor er die Kühe melkt. Erst jetzt bemerke ich wieder den Druck von Erin's Hand, welche mein Handgelenk zerdrückt. Schnurstracks peilt sie das Haus an und wirkt mit jedem Schritt entschlossener. Auch scheint sich ein Gewitter anzubahnen, da sich die Wolken nun zuziehen. Ein Grollen hoch oben im Himmel bestätigt meinen Gedanken. Das Geräusch fährt mir durch Mark und Bein und meine Armhärchen steigen elektrisiert nach oben. Erin lässt sich davon nicht beirren. Als wir schließlich vor der Haustür angekommen sind platzt sie ohne Anklopfen herein. Oliver steht gerade in der Küche und schreckt zusammen, als er uns sieht: „Dakota, was zur Hölle...!" Er hört mitten im Satz auf, als er sie erblickt und ich habe das Gefühl etwas zu verpassen. Ganz so, als ob sie ein Gespräch führen, zu dem ich keinen Zugriff habe. Es scheint eine Ewigkeit zu sein wie lange sie sich so anstarren, bis beide sich plötzlich bewegen und endlich wieder jemand etwas sagt: „Du weißt was das heißt. Wir müssen so schnell wie möglich packen." Mein Onkel hat das Wort ergriffen und ich habe ihn noch nie so bestürzt gesehen. Aus seinem Gesichtsausdruck kann ich nur lesen, dass er traurig und ängstlich aussieht. Das ist mein Stichwort, um mich aus meiner Schockstarre zu befreien: „Kann mir mal jemand sagen, was hier los ist?! Ihr beide seid so melodramatisch und seit wann nennst du ihn beim Vornamen?" Ich wende mich an meine beste Freundin, die mich mitleidig anschaut. Oliver kommt zu mir und hält mich an meinen Oberarmen fest, als er mir meine Frage beantwortet: „Ich weiß wie komisch diese ganze Situation hier sein muss. Und es macht dir bestimmt auch Angst. Aber Dakota, ich verspreche dir alles zu erklären, wenn wir uns auf den Weg machen. Aber jetzt musst du bitte alle deine Sachen zusammenpacken." Erin ist schon längst im ersten Stock verschwunden und ich höre ein lautes Krachen. Darauf folgt ein Geräusch, dass sich so anhört, als ob sie viele Kleiderbügel auf einmal nimmt. Ich habe so viele Fragen und doch bekomme ich keine einzige raus, da in dem Moment das Haus zu wackeln scheint. Mein erster Gedanke ist ein Erdbeben. Als ich aber reflexartig aus dem Fenster schaue, sehe ich die ersten Anzeichen eines Tornados. Die Grashalme werden blitzartig in die Luft geschossen und die Wolken bilden eine undurchdringbare, spiralförmige Masse. Schreiend vor lauter Krach wende ich mich den Beiden zu: „Wir müssen sofort in den Keller!" Oliver ist viel zu entspannt, dafür, dass unser Haus in jedem Moment mit uns wegfliegen könnte. In dieser Gegend ist ein Tornado nichts neues. Wir haben dennoch in der Schule gelernt uns so schnell wie möglich Schutz zu suchen. Die Lehrer predigen uns diesen Satz seit der ersten Klasse. Er schaut mir tief in die Augen: „Dakota, versuche ruhig zu bleiben. Hilft es dir, wenn Wing kommt?" Den letzten Satz habe ich noch viel weniger erwartet, als die Lebensmüdigkeit meines einzigen Familienmitglieds, dass ich noch habe: „Ich habe dir weder von einem Schmetterling erzählt, noch dass ich ihn benannt habe. Was läuft hier?" Genau in diesem Moment fliegt Wing wie aus dem Nichts aus dem Obergeschoss zu mir und landet auf meiner Nase. Dieses Verhalten ist so ungewöhnlich, da sich Wing nie in Gesellschaft zeigt auch noch nie auf meiner Nase gelandet ist. Müsste diese nicht glitschig sein, vor lauter Stressschweiß, den mein Körper ausstößt? Mit monotoner Stimme frage ich Wing: „Was machst du denn hier? Ein Tornado kommt auf uns zu." Und wieder packt mich die Angst mit seinem eisernen Griff, als ich nochmals aus dem Fenster schaue. Draußen ist wieder alles beim Alten, als man nur noch ein Grollen in weiter Ferne hört und sich kein Tornado in unsere Richtung bewegt. Habe ich mir das Spektakel nur vorgestellt? Bin ich so geschockt, dass ich schon anfange zu halluzinieren? Oliver steht immer noch vor mir und lächelt mich leicht an. Dann dreht er sich ohne ein Wort um und geht in Richtung seines Schlafzimmers. Er macht weiter, als ob dies ein normaler Tag wäre und lässt mich sprachlos hier stehen. Mit einem Schmetterling auf der Nase, der mich irgendwie beruhigt. Zum Glück geht es Wing gut. Egal, ob ich mir den Tornado nur vorgestellt habe. Dann flattert er kurz mit seinen Flügeln und landet auf dem Sofa. Ich gehe zu Oliver und sehe, dass er gerade eine auffällig rote Tasche aus dem hintersten Eck seines Kleiderschranks heraushievt. Unterhalb des Reisverschlusses steht: „Domus papilionum" Jetzt ist es um mich geschehen und die Tränen rollen meine Wangen herunter: „Oli, was passiert hier?" Er springt sofort auf und nimmt mich in den Arm: „Es tut mir leid, mein Schatz. Erin und ich geben dir nicht genug Antworten und alles kommt so plötzlich. Bitte vertraue darauf, dass Erin und ich unser Bestes geben und dir alle Fragen beantworten werden, die du auf dem Herzen hast. Es ist nur unglaublich wichtig jetzt zu packen und zu dritt sind wir schneller. Es gibt im Moment keine Gefahr, es wird alles gut." 'Im Moment keine Gefahr...' hallt in meinem Kopf wider. Aber was ich weiß ist, dass ich ihm vertraue. Wir leben seit meinem ersten Lebensjahr hier, als meine Eltern wegen Mordes zu einer lebenslänglichen Haftstrafe verklagt wurden. Oliver hat nicht lang gezögert und mein Sorgerecht übernommen. Er ist wie mein bester Freund und Vater zugleich. Und wenn er gesagt hat, dass wir den steinigen Weg gehen müssen, habe ich ihm geglaubt und bin ihm gefolgt. Wie an diesem Berg, an meinem zehnten Geburtstag. Ich war nicht immer einfach, aber er hat es hingenommen und das Beste aus der Situation gemacht. Momentan weiß ich nicht, was es mit Wing, dem Tornado, Erin und dieser Tasche auf sich hat. Ich muss einfach abwarten, danach wird sich alles klären. Zumindest versuche ich es mir einzureden. Erin ist die Optimistin von uns Beiden. Ich würde mich eher als realistisch beschreiben. Vielleicht werde ich verarscht und irgendwo ist eine versteckte Kamera, die peinlicherweise alle Aufnahmen ausstrahlt. Hoffentlich sehe ich nicht ganz so schlimm aus, wie ich mich fühle. Und... ohje, mein unaufgeräumtes Zimmer. Erst jetzt realisiere ich Oliver's Aussage, als ich weiterhin perplex im Wohnzimmer stehe. Daher führt mein Weg in mein Zimmer, indem Erin laut schnaubend meinen gesamten Kleiderschrank ausgeräumt hat. Zugegebenerweise ist dieser nicht besonders groß, weswegen der Inhalt in einen Koffer passt. Erin packt derweilen Krimskrams in einen Rucksack ein und kämpft mit einem Notizblock, den sie in die volle Tasche zu quetschen versucht. Ich helfe ihr schließlich wortlos die Tasche aufzuhalten. Sie weicht dabei meinen Blicken aus. Die Minuten verstreichen in Windeseile und bald sind zwei Rucksäcke und der Koffer mit den Kleidern gepackt. Ich habe mich dazu entschlossen ihr Spiel mitzumachen und zu schauen, wohin es mich führt. Mir bleibt keine andere Wahl. Als Erin und ich uns mit dem Gepäck auf den Weg in Richtung des Pickups machen, beendet dieser ein Gespräch am Telefon: „... von nichts. Wir erklären ihr alles vor Ort. Bis später." Mit sorgenvoller Mine dreht er sich zu uns und nimmt mein Gepäck entgegen. Erin läuft unbemerkt zum Haus zurück. Sie möchte uns Zeit zum Reden lassen, ich kenne sie. „Oli, falls ich etwas falsch gemacht habe, dann sage es bitte." Er schenkt mir als Antwort eine feste Umarmung. Ich vergrabe dabei mein Gesicht in seinem Hemd und nehme den bekannten Duft auf. „Du hast nichts falsch gemacht, mein Schatz. Du wirst sehen, dass sich alles klärt, wenn wir da sind." Er wirkt so gar nicht überzeugend. „Muss ich in so eine Art Heim? Hat es was mit meinen Eltern zu tun? Oder ist hier eine versteckte Kamera?" Als ich in sein Gesicht sehe, schmunzelt er: „Erstens, könnte ich dich rein rechtlich nicht mehr in ein Heim bringen. Du bist 18 und trägst die eigene Verantwortung und zweitens würden Erin und ich dich niemals so auf den Arm nehmen." Die Frage nach meinen Eltern lässt er unbeantwortet, wie so oft in der Vergangenheit. Er redet nicht gerne über sie, obwohl es mich diesmal so in den Fingern kitzelt, die Antwort zu erfahren. Ich spüre urplötzlich eine Hand auf meiner Schulter: „Wir müssen jetzt los, Dakota." Erin hat sich wie ein Hirsch angeschlichen.
Also machen wir uns auf den Weg ins Unbekannte. Zumindest für mich... .

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Butterfly Fight
FantasyDakota wächst bei ihrem Onkel auf, der ihr jedoch ein großes Geheimniss verschweigt. Denn sie gehört zu einem uralten Clan eines magischen Dorfes. Gemeinsam mit ihren Freunden werden ihr neue Herausforderungen gestellt. Wäre da nur nicht diese Anzie...