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Zeit ist kostbar bei diesem Spiel. Sie ist oft knapp bemessen, nur selten gönnt mir Florian mehr als ein paar Minuten Atempause zwischen den einzelnen Aufgaben. Dementsprechend hoch ist die Geschwindigkeit, mit der ich oft von einem Ziel zum nächsten brause. Dass dabei die Sicherheit nicht zu kurz kommen darf, das mussten sowohl ich als auch Florian unseren Eltern versprechen, bevor sie vor mehr als drei Jahren ihr Okay zu unserem ersten Spiel gegeben haben. Sie verdonnerten uns beide dazu, mehrere Sicherheitstrainings im örtlichen Radfahrerclub zu absolvieren und uns eine komplette Ausrüstung inklusive Knie- und Ellbogenschoner sowie Helm zuzulegen. Auch Florian, obwohl der nur passiv am Spiel teilnimmt und es sich meistens in irgendeinem Café oder an einem anderen Ort, an dem es vor Menschen wimmelt, gut gehen lässt, während er meine Fortschritte per GPS-Signal auf seinem Handy verfolgt. Wo er sich wohl heute mit seinem Buch in aller Öffentlichkeit versteckt?

Ich erreiche das Ziel eine Minute vor der vorgegebenen Zeit, schließe mein Rad ab und öffne den Verschluss meines Fahrradhelms, als ich an die riesige Fensterscheibe unserer örtlichen Buchhandlung klopfe, durch die man einen guten Blick auf die mehr schlecht als recht beleuchteten Bücherregale werfen kann, die immer so vollgestopft sind, dass ich, wenn ich mich da überhaupt mal alleine reintraue, was bisher höchstens zu Beginn eines neuen Schuljahres passiert ist, stets das Gefühl habe, die Regale könnten mitsamt ihres tonnenschweren Inhalts über mir zusammenkrachen und mich für immer und ewig unter sich begraben. Dass ich mich darin trotzdem gut auskenne, habe ich allein Florian zu verdanken - der Typ ist eine absolute Leseratte.

„Ah, auf die Minute genau", nickt Herr Braun anerkennend, als er die Tür öffnet, um sie hinter mir gleich wieder abzuschließen. „Genau wie dein Freund es vorhergesagt hat. Bist du bereit?"

Ich nicke wortlos und wende meinen Blick von ihm ab, als ich aus den Augenwinkeln seine Frau auf uns zukommen sehe. Wie ihr Mann auch, ist sie in ihren Siebzigern und hat unglaublich weißes Haar. Anders als er, der seine jüngere Kundschaft zuweilen mürrisch begrüßt, ist sie immer fröhlich und nett, so wie ich mir die ideale Großmutter vorstelle. Da ich meine eigenen Großeltern nie kennengelernt habe, weil alle noch vor meiner Geburt gestorben sind, träume ich manchmal gern davon, Frau Braun zu adoptieren. Dann wären auch wir eine einigermaßen normale Familie.

„Guten Morgen, mein Lieber", begrüßt sie mich herzlich und legt ihre Hand auf meinen Arm. „Es ist wunderbar, dass du heute hier bist."

„Auch Ihnen einen guten Morgen, Frau Braun", antworte ich. Als ich Herrn Brauns Blick treffe, füge ich rasch hinzu: „Ihnen beiden einen guten Morgen."

„Du wunderst dich sicherlich, was dich hier erwartet, nicht?", fragt sie.

„Ich bin ziemlich aufgekratzt", gebe ich zu. „Neugierig."

„Gut, dann wollen wir dich nicht länger auf die Folter spannen", mischt sich ihr Mann mit übertriebener Freundlichkeit ein. Er verlässt uns kurz, um aus einem Regal gezielt ein Buch herauszuziehen, das er mir gleich in die Hand drückt. „Wir wissen, dass du kein großer Bücherfreund bist, aber dieses Buch hier, vielleicht ändert es deine Meinung."

„Keiner von uns kann was damit anfangen", sagt meine Traumgroßmutter, „Science Fiction. Nicht unsere Generation, fürchte ich. Aber dir könnte es gefallen."

„Florian hat es ausgesucht."

„Okay, ähm, ich soll es lesen?"

„Ja. Nein. Ja. Ja, sollst du. Nicht das ganze Buch natürlich, dafür reicht die Zeit nicht. Aber so weit du kommst."

„Und dann ...?"

„Ja, der Buchstabe", erinnert er sich. „Die Karte."

„Und die Bedingung", wirft sie geheimnisvoll ein.

Maxis Flo(h)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt