08:27 Uhr

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Vier Minuten nachdem die Brauns mich verabschiedet haben, erreiche ich die nächste Station, das Reisebüro Fernweh, das erst in drei Minuten öffnet. Durch die Schaufenster spähe ich schon mal hinein, kann aber noch keine Menschenseele erkennen. Was genau ich hier machen soll, ist mir schleierhaft.

Außer ... Nein, nicht schon wieder! Die Aufgabe hatte ich schon einmal: eine Reise buchen, um sie kurz vor Feierabend wieder zu stornieren. Zum Glück musste ich damals die Nummer nicht in diesem Reisebüro abziehen, sonst würden sie mich heute wahrscheinlich gar nicht erst reinlassen.

Nur um ganz sicher zu gehen, für den Fall, dass Florian es diesmal ernst meint, schaue ich in mein Portemonnaie, ob die Kreditkarte, die mein Vater mir für die Spiele gegeben hat, drin steckt.

Noch eine Minute, 60 Sekunden. 59 ... 58 ...

Wie schlägt man eine Minute tot? Ich könnte weiterlesen, aber kaum, dass ich das Buch herausgenommen hätte, müsste ich es wieder einstecken. Die Straße ist leer, kein einziger Passant, mit dem ich mich unterhalten könnte. Die Häuser, langweilig, kenne ich, seit ich denken kann. Nichts Neues, Besonderes, was meine Aufmerksamkeit erregt.

Noch zwanzig Sekunden.

Mein Handy - keine neuen Nachrichten, was auch kein Wunder ist, weil Florian sich während des Spiels grundsätzlich nicht meldet und Kate bereits mit der Arbeit angefangen hat. Und was die anderen angeht, die schlafen um diese Uhrzeit noch.

Zehn Sekunden. Neun. Acht. Sieben.

Die Sekunden herunterzählen zu müssen, ist echt erbärmlich. Als ob ich nichts Besseres mit meiner Zeit anzufangen hätte! Endlich kommt jemand, um aufzuschließen. Zu meinem Erstaunen werde ich von einem recht jungen Mann begrüßt, viel älter als ich dürfte er nicht sein, Anfang zwanzig wahrscheinlich. Er sieht unverschämt gut aus mit seiner sonnengebräunten Haut und dem durchtrainierten Körper, der von auffällig wenig Stoff bedeckt ist, seinen blaugrünen Augen und dem verspielten Blick darin - als wäre er dem Werbeclip eines Reiseanbieters entsprungen oder würde sich normalerweise als Animateur von den Blicken junggebliebener Damen ausziehen lassen.

„Guten Morgen", sagt er mit einem leichten Akzent, den ich nicht zuordnen kann. „Sie sind Herr Jansen, nehme ich an?"

„Ja. Ja, hallo, guten Morgen", stammele ich. „Max Jansen, Herr ..." Seinen Namen kann ich leider nicht lesen, denn dazu müsste ich meinen Blick von seinem Gesicht lösen und, so sehr ich es auch versuche, ich schaffe es nicht.

„Nennen Sie mich bitte Ruben."

„Ruben."

„Darf ich Ihnen eine Tasse Kaffee oder Tee anbieten, Herr Jansen? Oder eine Erfrischung?"

Ich schüttele eifrig den Kopf, sage aber im gleichen Moment: „Ein Glas Wasser wäre nett." Woraufhin er verschwindet, um kurz darauf mit einem Wasserglas wiederzukommen.

„Bitte, nehmen Sie Platz", sagt er und setzt sich mir gegenüber vor den PC. Ich gehorche, ohne meine Augen von ihm zu nehmen. „Wenn ich Ihren Freund ..."

„Sagen Sie, Ruben", platzt es aus mir heraus, „sind Sie neu hier?" Die Frage ist nicht ganz unberechtigt, denn ich bilde mir ein, so ziemlich jeden in unserer 3000-Seelen-Weltstadt zu kennen und ihn habe ich noch nie zuvor gesehen.

„Nicht neu", antwortet er freundlich, „vertretungsweise. Eine Woche zu Besuch sozusagen, weil meine Kolleginnen ..."

„Frau May und Frau Yildirim", unterbreche ich ihn unfreiwillig, weil ich zu aufgeregt bin, um meine Klappe zu halten.

„Genau. Frau May ist krank und Frau Yildirims Schicht beginnt um zwölf. Aber, um auf Ihre Reise zurückzukommen ..."

„Ich verreise?"

„Deshalb sind Sie hier, oder?", fragt er verunsichert. „Ihr Freund, Herr ...", er schaut auf seine Notizen, „Herr Warte hat soweit schon alles geregelt, er sagte aber, Sie würden es noch einmal mit mir durchgehen wollen und eventuell noch was ändern."

„Das hat Herr Warte gesagt?" Also doch eine Reise. Schade, bei diesem netten Gegenüber hätte ich gegen ein Date nichts einzuwenden gehabt. „Und wohin geht es?"

„Nach ... nach Amsterdam." Der arme Ruben tut mir leid, wird ihm sicher zum ersten Mal passieren, dass zwei Leute verreisen wollen und so einen Aufstand deswegen machen. „Für acht Tage. Kommenden Montag fliegen Sie morgens um acht los, kommen kurz nach neun am Flughafen Schiphol an. Ein Shuttle bringt Sie von dort in Ihr Hotel. Vier Sterne, Doppelzimmer mit Doppelbett, inklusive Frühstück. Herr Warte meinte, Vollpension wäre überflüssig."

Nachdem er die Einzelheiten runtergeleiert hat, wartet er eine Weile und fährt erst fort, als ich nicke. „Im Preis inbegriffen sind City Cards für die Dauer Ihres Aufenthalts für öffentliche Verkehrsmittel, mit kostenlosem Eintritt zu vielen Museen sowie weiteren Vergünstigungen. Weitere Informationen dazu finden Sie hier", sagt er und legt einen roten Flyer auf den Tisch. „Dazu Mietfahrräder für drei Stunden täglich, ein Mietroller für einen Tag für die Erkundung des Umlandes und ... falls Sie zusätzliche Wünsche haben oder etwas ändern möchten ..."

„Nein, nein, danke", segne ich alles ab und vernehme ein erleichtertes Ausatmen. „Was kostet der Spaß?"

„Herr Warte hat einen Großteil des Betrages bereits beglichen ..." Das hat er? Dann meint er es dieses Mal wohl ernst mit der Reise. „Der noch offene Betrag liegt bei 647 Euro."

Ein merkwürdig krummer Betrag und noch dazu ein recht hoher, bedenkt man, dass Florian schon eine Anzahlung geleistet hat. Oder war das etwa nur ein symbolischer Euro? „Wieviel hat mein Freund bezahlt?"

„1000 Euro." Damit hat er das Limit seiner Kreditkarte voll ausgeschöpft. Ist er total übergeschnappt?!

„Die Reise kostet 1647 Euro?! Für acht Tage?!"

„Für zwei Personen. Inklusive Reiserücktrittsversicherung", versucht er mir den Preis schmackhafter zu machen.

„Okay", gebe ich kampflos nach und erwürge Florian mental, bevor ich diesem Typen meine Karte hinhalte, dessen Aussehen angesichts dessen, dass er mich gleich um so viel Geld erleichtern wird, deutlich an Schönheit einbüßt. Dass mein Vater die Kartenabrechnungen begleicht, macht es auch nicht besser, denn ich muss zwar nicht für die ausgegebene Summe aufkommen, darf mir bei einem so hohen Betrag jedoch bestimmt eine Standpauke anhören. Ein Vergnügen, das ich gerne mit Florian teilen werde!

Plötzlich verspüre ich den Drang, den Laden und Ruben, Herrn Weiß, wie ich mittlerweile herausgefunden habe, zu verlassen. Sobald ich die Kreditkarte, die jetzt eine Tonne zu wiegen scheint, in mein Portemonnaie und das Portemonnaie in meine Hosentasche gesteckt habe, nehme ich noch meinen Preis entgegen, die Spielkarte mit dem nächsten Buchstaben und dem nächsten Ziel, und verabschiede mich, nicht jedoch ohne Ruben einen letzten Blick und ein anzügliches Grinsen zuzuwerfen.

Maxis Flo(h)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt