Anekdoten ‒ die zweite

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Die Nacht, in der ich die Straßenlaterne anheulte

Lesen bildet, so sagen jedenfalls die meisten. Daß Lesen auch gefährlich sein kann, ist schon von bedeutend weniger Leuten zu hören. Wenn aber beides zugleich zutrifft, und es einem selbst widerfährt, dann ist es das wert, erzählt zu werden.

Im Laufe der Jahre habe ich so manchen Roman und manche Kurzgeschichte über Werwölfe gelesen, auch einige Märchen, und, sogar das, einige Werke, die den seriösen Anschein wissenschaftlicher Abhandlungen erweckten. Als Quintessenz all des Gelesenen kann ich zusammenfassen, daß es keine besonderen Präferenzen bezüglich der Mondphasen gibt, wann ein Mensch zu einem Werwolf wird, weder sein Umfeld spielt eine besondere Rolle, noch hat es mit irgendwelchen Vorlieben hinsichtlich des Essens zu tun, das üblicherweise zu sich genommen wird. Eine wesentliche, vielleicht sogar die entscheidende Gemeinsamkeit all dieser Bücher ist die, daß es sich ausschließlich um männliche Personen und somit auch männliche Werwölfe handelt. Daraus ließe sich nun schlußfolgern, daß keine Verwandlung von weiblichen Personen zu Werwölfinnen möglich sein dürfte, oder zumindest bisher keine bekannt geworden ist.

Eines schönen Abends war ich gerade wieder einmal mit der Lektüre eines dieser Bücher über Werwölfe befaßt, als das Licht der Stehlampe, die mir die zum Lesen benötigte Helligkeit bot, eigenartig zu flackern begann. Ich schob es zunächst auf einen technischen Defekt oder eine momentane Überlastung des Stromnetzes, und so schenkte ich diesem Phänomen erst einmal keine weitere Beachtung. Mit einem Mal wurde mir eigenartig warm, und mein Gebiß begann sich zu strecken, Haare wuchsen an unerwarteten Stellen in einer nie gekannten Geschwindigkeit, und dann bemerkte ich, daß ich mein Buch kaum noch halten konnte, weil sich die Finger zu krümmen begannen, und die Fingernägel formten sich zu Krallen, während sie zügig wuchsen. Meine Gedanken rasten, ich wurde richtiggehend unruhig, sprang vom Sessel auf, und auf dem Weg zur Haustüre, um ins Freie zu gelangen, kam ich an dem großen Garderobenspiegel vorbei, wobei ich einen kurzen, erschrockenen Blick auf mein drastisch geändertes Äußeres erhaschte. Ich war zur Werwölfin geworden, etwas, das bisher gänzlich unmöglich schien!

Draußen nun, am Gartenzaun angekommen, ging mein Blick nach oben gen Himmel, ich mußte den Mond finden. Ich fand ihn nicht, nur den mit funkelnden Sternen überzogenen Nachthimmel. Kein Mond! Das war so nicht vorgesehen, also ließ ich erneut meine Blicke schweifen. Als ordentliche Werwölfin mußte ich mich auch ordentlich verhalten und den Mond anheulen, da ich als grundsätzlich friedliebende Werwölfin nicht gewillt war, unschuldige Menschen anzufallen, obwohl diese Möglichkeit ebenfalls als arttypisch anzusehen gewesen wäre. Zu meinem großen Glück konnte ich dann doch noch den Lichtschein des Mondes entdecken, und, nachdem ich mich ihm bis auf wenige Zentimeter genähert hatte, fing ich mit meinem längst überfälligen Geheul an. Mich wunderte noch, daß niemand auf mich aufmerksam wurde, und daß sich keine Menschen weit und breit im Freien aufhielten. Ich jedenfalls tat mein bestes, um die Welt und vor allem den Mond zufriedenzustellen, indem ich aus meiner vollsten Seele so herzzerreißend wie möglich heulte.

Wie ich wieder zurück in mein Bett kam, und wann und wie meine Rückwandlung von der Werwölfin zu einem Menschen vonstatten ging, kann ich nicht sagen, daran fehlt mir jede Erinnerung. Am nächsten Morgen, als ich mich gerade anschickte, mit dem Fahrrad zum Einkaufen zu fahren, traf ich unversehens auf meine Nachbarin, der ich meine unglaublichen Erlebnisse der vergangenen Nacht unbedingt erzählen wollte. Noch bevor ich außer der Begrüßung irgendetwas sagen konnte, fing sie an, von einer für sie rätselhaften Beobachtung zu sprechen. Als sie in der Nacht unterwegs zur Toilette gewesen sei, habe sie bei einem Blick aus dem Fenster gesehen, wie ich im gepunkteten Schlafanzug die Straßenlaterne umklammert gehalten hätte. Sie habe sich etwas übergezogen und sei zu mir auf die Straße gekommen, wo sie dann gehört habe, wie ich starr nach oben zur Laterne geblickt und dabei immer wieder piepsige Laute ausgestoßen hätte. Auf ihre an mich gerichteten Worte hätte ich zwar nicht reagiert, nachdem sie mir aber auf die Schulter getippt habe, hätte ich sie kurz angeblickt, unverständlich geknurrt, und dann sei ich mit leicht federnden Schritten zurück ins Haus geschlichen.

Bloß gut, daß mir meine Nachbarin zuvorgekommen war, und ich deshalb nichts von meiner nächtlichen Verwandlung erzählen hatte können, so faselte ich etwas von der schwülen vergangenen Nacht, meinem unruhigen Schlaf, sowie meinem plötzlich sehr starkem Bedürfnis nach frischer Luft. Danach verabschiedete ich mich, stieg auf mein Fahrrad und fuhr von dannen. Ich überlegte kurz, was in der Nacht wirklich vorgefallen sein mußte, und beschloß, nie auch nur irgendwem ein Sterbenswörtchen darüber zu erzählen, da ich stark bezweifle, daß mir geglaubt werden würde.

Alikis GedichtekücheWo Geschichten leben. Entdecke jetzt