Kapitel 1

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„Ihr könnt nun eure Feldbücher herausholen, wenn ihr sie nicht schon griffbereit habt und mal versuchen den Aufschluss nach den eben besprochenen Kriterien zu zeichnen. Und vergesset den Maßstab nicht!"

Wie zeichnen? Das ist ein unebener, aufgebrochener Felsblock, der sich über ganze 20 m Länge und 30 m Höhe erstreckt, falls ich das richtig geschätzt habe – habe ich wahrscheinlich nicht. Aber von wo bis wo soll ich denn jetzt zeichnen? Und was überhaupt? Ich meine das Einzige was mir auffällig erscheint sind die sich unregelmäßig über den Stein ziehenden Farben. Oh, Entschuldigung, ich meinte „Gestein", wie uns unsere Professorin bei jeder Gelegenheit korrigiert. Es scheint fast schon so als hätte sie Spaß daran. Die vielen kleinen Erstis daran erinnern, dass sie noch keine Geologen, sondern lediglich unwissende Geologie-Studenten sind. Instinktiv verziehe ich das Gesicht.

„Hast du was Karlotte?"

Ich drehe mich zu Naomi. Der Name passt zu ihr – er bedeutet „ehrlich", „überall" oder auch „schön". Woher ich das weiß? Ich habe den Namen während einer sehr langweiligen Vorlesung von Professor Böhmann gegoogelt. Das war mit Sicherheit ergiebiger als sein unverständliches Genuschel vor seinem geliebten, kreidezeitlichen Overheadprojektor. Hier hatte ich auch die hübsche Japanerin kennengelernt, welche seitdem ständig an meinem Stand zum Uni-Stoff und viel weniger an meiner Persönlichkeit interessiert ist. Aber was mich am meisten nervt sind ihre überrumpelnden, unverhohlenen, mich betreffenden Kommentare zu Dingen von denen sie keine Ahnung hat. Leider kann ich ihr in dem kleinen Studiengang, bestehend aus gerade mal 30 Leuten nur schwer aus dem Weg gehen.

„Kara, ich habe dir schon oft genug gesagt, dass du mich Kara nennen sollst."

Wer nennt sein Kind, denn im 21. Jahrhundert auch bitte Karlotte? Ich habe keine Ahnung was damals mit meinen Eltern durchgegangen ist. Unglücklicherweise hat Naomi meinen Studentenausweis zu Gesicht bekommen und nennt mich seit dem bei meinem vollen Namen.

Möglichst schnell wende ich mich ab, um ihr nicht länger in die einfühlsam-spielenden Mandelaugen blicken zu müssen. Eigentlich will sie sich doch nur daran erbauen, dass mir unsere erste Exkursion schon jetzt nach gerade mal drei Stunden zu viel wird, während sie sich hier pudelwohl zu fühlen scheint. Irgendwie ist aber auch heute alles schief gelaufen – Zug verpasst, zu spät gekommen, genervte Blicke von Kommilitonen und Prof kassiert und dann die ununterbrochenen Erzählungen über die Geschichte der Landschaft, denen ich bisher mehr schlecht als recht folgen konnte.

Und jetzt sitze ich hier, auf einem modrigen, glitschigen Felsblock und soll dieses Etwas vor mir zeichnen. Demotiviert fange ich damit an, denn ich gehe nicht davon aus, dass Naomi mir später ihre Unterlagen zur Verfügung stellen wird und schließlich sollen wir einen zehn seitigen Bericht über den Tag schreiben. Mein neu gekaufter Bleistift funktioniert immerhin einwandfrei, obwohl mir das gerade auch nicht weiterhilft. Ich schaue ratlos zu den Skizzen der Anderen, drehe meinen Kopf aber sofort wieder zurück, als ich sehe, dass meine Professorin in meine Richtung läuft. Nein! Ich habe bis jetzt noch so gut wie nichts geschafft. Ungelenk versuche ich mein Feldbuch mit dem Arm so zu verdecken, dass es natürlich wirkt. Das funktioniert jedoch nicht wirklich, denn falls mich meine steife Haltung nicht verrät, dann tut es zumindest mein sichtlich aufgezwungener, „konzentriert-unauffälliger" Gesichtsausdruck.

„Und, wie weit sind Sie schon?"

„Naja, ich denke gerade noch nach."

„Ihr habt aber nur fünf Minuten Zeit, ich würde mich beeilen. Sie sollen ja nur die groben Strukturen zeichnen und kein Stillleben, aber später brauchen Sie das für ihren Bericht."

Frau Pfeiffer wirft mir noch einen vielaussagenden Blick zu und richtet ihre Aufmerksamkeit dann wieder auf die Skizzen der Anderen.

Na toll, da habe ich gleich wieder den nächsten guten Eindruck hinterlassen. Am liebsten würde ich wieder nach Hause fahren, aber dann muss ich die Exkursion im nächsten Jahr nachholen und das will ich wiederum auch nicht. Verzweifelt male ich noch ein paar Striche ich in mein Heft und lass es dann schließlich ganz sein.

EntfremdetWo Geschichten leben. Entdecke jetzt