Ich hatte noch nie ein Geschenk erhalten. Es sei denn, der Aufenthalt in dieser Anstalt wäre eines, was ich mir lediglich nicht vorstellen konnte. Kein Geburtstag wurde hier gefeiert. Unter Umständen durfte jedes Geburtstagskind seine Lieblingsspeise nennen. Natürlich nur im Rahmen des Möglichen, mit den vorhandenen Lebensmitteln. Die Welt sei, laut den Aufsehern, kaum fruchtbar, verdorben und voller Gewalt. Ich wusste leider nicht genau, was sie damit meinten und wenn es nach mir ginge, würde ich die Welt mit eigenen Augen betrachten und meine Meinung dazu bilden. War es also etwa doch ein Geschenk, mich in eine Einrichtung zu liefern, welche als Schutz vor der Außenwelt diente? Man konnte sich nicht vergewissern, ob die Aufseher logen, aber wenn sie etwas aussprachen, dann meinten sie es todernst. So wie das Versprechen von Anton, dass ich meine Eltern wieder nicht besuchen durfte, womit ich nicht zurechtkam. Das Einzige, was ich mir als Geschenk vorstellte, war meine Eltern zu sehen. Nur sehen. Das passierte, wenn es hochkam, nur zwei Mal im Monat. Ich schaute auf das hellblaue, quadratische, verpackte, mit Blumen fixierte Geschenk, welches mir Felix Angus vor die Nase hielt. Warum schenkte mir ein neuer Aufseher, der mich nicht kannte, ein Geschenk. Ein Geschenk als Zeichen des Vertrauens. Ich kannte alle Aufseher. Man konnte niemanden vertrauen. Sobald es um ihre Arbeit ging, würden sie alles machen, um ihr gegenseitiges Vertrauen aufrechtzuerhalten. Selbst die Ärztin oder eher gesagt die Anstalts-Therapeutin, zu der man uns gezwungenermaßen einmal pro Woche schickte, konnte man nicht vertrauen. Ich erinnerte mich ganz genau daran, als ich das erste Mal bei ihr war und aus dem Nichts weinte. Als dann eine Woche verging, nannten mich viele Aufseher Heulsuse und dann fiel mir abrupt ein, dass die Therapeutin interne Gespräche und Diagnosen an alle weiterleitete, weil ich niemals vor anderen, weinte. Seitdem ging ich immer nach zwanzig Minuten aus dem Raum, in dem ich nur log und schrieb, was mich wirklich belastete, in mein Tagebuch, das ich zwischen der Matratze und dem Bettgestell versteckte. Siebzehn Jahre bin ich schon hier, die letzten Monate werde ich auch noch aushalten, bis ich endlich achtzehn Jahre alt werde und die Anstalt verlassen darf. Das war die einzige Wahrheit der Aufseher, die ich kannte, weil jedes Kind, das achtzehn Jahre alt wurde, eine kleine Abschiedsfeier bekam und für immer durch das große goldene Tor Richtung unendlichem Horizont verschwand. Niemand kam zurück. Wer wollte es denn auch? Ich hätte Angst, dass ich erneut eingewiesen werde. Ich fragte mich, was aus ihnen geworden war, ob sie ihre Träume in der weiten großen Welt verfolgten und zufrieden waren? „Cari?", fragte mich Herr Angus und riss mich aus meinen Gedanken. Er zuckte mit der Hand, in der er das Geschenkt hielt. „Du brauchst keine Angst vor mir haben","Wo ist Carlos?!", unterbrach ich ihn. Seine blau-grünen Augen verrieten, dass er verwirrt war, woraufhin er das Geschenk zu sich zog. Nur sein langes, blondes Haar unterscheidet ihn von Carlos. Er roch sogar nach ihm. Nur weil Herr Angus dieselbe Uniform trug, hieß es nicht, dass er Carlos Platz ersetzen konnte. Die grünen Uniformen, die jeder Aufseher trug, waren normalerweise mit vielen Marken und gelb-roten Epauletten, auf denen Zahlen vernäht waren, bestückt, aber Herr Angus hatte weder das eine noch das andere. Nur ein gelbes Namensschild über seiner linken Brusttasche, welches ich das erste Mal sah. Ein gelbes Namensschild, weil er neu war? „War Carlos dein alter Aufseher?", fragte er ruhig, während seine Augen feinfühliger wurden. „Ja, ist er. Ich will ihn als Aufseher!", schrie ich fast. „Es tut mir leid, Cari", stoppte er und atmete zittrig tief ein und aus. „Es tut mir leid, aber er weilt nicht mehr unter uns...", er schaute traurig auf sein Geschenk, infolgedessen sein langes Haar ins Gesicht fiel. „Er ist was? Er ist tot?", fragte ich entsetzt. Ich ließ mein Buch erneut fallen, was ein dumpfes Hallen erzeugte, und versuchte meine zittrigen Hände in mein Gesicht zu fassen, aber Herr Angus hielt plötzlich meine Hände. „Es tut mir so leid. Ich weiß, ich kann ihn nicht ersetzen oder ihn zurückholen, aber ich verspreche dir, dass ich alles Mögliche tun werde, damit du es hier angenehm hast. Ich werde für dich immer ein offenes Ohr haben, ich werde nichts weitererzählen! Das verspreche ich dir...Cari", beruhigte er mich, aber ich konnte es nicht fassen, dass Carlos weg war und ein Neuer versuchte, seinen Platz einzunehmen. Bevor ich ihm in die Augen schaute, erkannte ich das Geschenk, welches auch auf dem Boden lag. Es war schon eine nette Geste von ihm, aber kein Beweis des Vertrauens. Herr Angus schaute mich eindringlich wie ein jammernder Hund an, aber ich sagte ihm, dass ich niemand anderem vertrauen würde als Carlos. Er ging ein Schritt zurück, hob das Geschenk auf und überreichte es mir. Doch bevor ich es dankend annahm, sagte er „Ich will dich zu nichts zwingen, ich werde dir die Zeit geben, die du brauchst, um mich als deinen Aufseher zu akzeptieren. Bitte nenn mich doch Felix". Ich nahm das Geschenk an, aber Herr Angus wies mich darauf hin, dass wir in die Kantine müssen, bevor die Aufzählung stattfand. Daher versteckte ich das Geschenk am selben Ort wie mein Tagebuch. Danach verließen wir mein Zimmer. Auf dem Weg zur Kantine begegnete ich Alexis, eine Jugendliche, die in einer Woche achtzehn Jahre alt wird und aus der Hölle verschwinden kann. Sie wurde von ihrem Aufseher geschubst, weil sie nicht so schnell lief, wie es angebracht war in der Anstalt. Wir hatten uns damals sehr gut verstanden, aber als sie ihren neuen Aufseher bekam, hatte sie sich plötzlich über Nacht verändert. „Schau nicht hin", flüsterte Felix. Erstaunt über seine Warnung, zuckte ich und schaute ihn rechts von mir an. Warum sagte er das? Es war doch keine Straftat, andere zu beobachten. Bevor ich aber darauf antworten konnte, wusste ich, was er meinte. Plötzlich drang der übel erregende Geruch in meine Nase. Es war wie unbearbeitetes Fleisch, welches drei Wochen lang in einer Ecke lag. Hypnotisiert schaute ich auf die Leiche, die vor der Kantinentür lag. Es war - ein dumpfer Schlag ließ den Boden beben. Ich schaute nach hinten, um nachzugucken, was es war, aber es war Alexis, die endgültig auf dem Boden geschubst wurde und versuchte sich aufzurappeln. Erneut blickte ich auf die Leiche und hörte lediglich Tritte, die Alexis wegsteckte. Diese Leiche war niemand anderes als mein Vater.
Entscheidungsfrage: Soll Cari sich zu ihrem toten Vater durchkämpfen oder soll sie Alexis helfen?
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RI-Turn
ActionEs begann im frühen Alter, als Cari-Layla in die Anstalt für besondere Jugendliche eingewiesen wurde. Die Anstalt, die sie, seitdem sie geboren wurde, nie verlassen durfte. Jedes Elternpaar durfte ihr Kind an jeden ersten Sonntag im Monat mit nach H...