KAPITEL 1

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Freitag, 27. August

Obwohl draußen die Welt von sanften und warmen Sonnenstrahlen umgeben ist, den Menschen das Gefühl von Sommer und somit Freude und Spaß vermittelt, ist die Welt von Zoey McCain stockdunkel. Kein einziger Lichtstrahl erhellt ihre Welt. Aber die Welt von Zoey ist nicht nur dunkel, sie ist farblos. Für sie ist alles Schwarz-Weiß. Wie die Bilder, die sie sich vor einigen Wochen mit ihrer Grandma angesehen hat. Für Zoey ist die Welt nicht mehr farbenfroh, kunterbunt und wunderschön. Einst war es so. Einst war Zoeys Welt voller Freude, Abenteuer und Wunder. Sie konnte sich über die kleinsten Dinge des Lebens erfreuen. Sie liebte es, mit ihrer kleinen Schwester durch den Garten zu rennen, mit Benji und Elaine Roller zu fahren, mit ihrer Mutter Schmetterlinge zu beobachten und mit ihrem Vater ein Buch zu lesen. Nur äußerst selten verließ Zoeys sonnenstrahlendes Lächeln ihr Gesicht. „Du bringst Sonne ins Leben, auch an regnerischen und stürmischen Tagen", hatte ihre Mutter immer gesagt. Ja, man könnte sagen, Zoey war ein Kind der Sonne. Aber mittlerweile gibt es die Sonnen-Zoey nicht mehr. Sie ist verschwunden. Mit dem Tod ihrer Mutter ging sie unter. Danach gab es nie wieder einen Sonnenaufgang.

Und vor neun Tagen hat auch ihre Grandma die Welt verlassen. Sie ist ihrer Tochter und ihrem Mann gefolgt. Zoey weiß, dass ihre Grandma nie wieder glücklich war, nachdem neben ihrem Mann auch ihre Tochter gestorben ist. So wird sie jetzt wieder glücklich sein. Während Zoey sich fragt, ob jemals wieder Sonne in ihrem Leben sein wird, ob sie jemals wieder glücklich sein wird. Sie glaubt nicht daran. Ihr Optimismus ist mit dem Tod ihrer Mutter gegangen. Und obwohl Zoey nicht mit ihrer Mutter von der Erde gegangen ist, hat das Leben sie komplett verlassen. Sie atmet, aber leben tut sie nicht. Sie lächelt nicht mehr, sie redet kaum, vermeidet Orte, wo viele Menschen sind, sie ließt Unmengen an Bücher, um in andere Welten zu fliehen, weil sie es in dieser, in der Realität, ohne ihre Mutter, kaum aushält. Denn für Zoey war ihre Mutter die Sonne in ihrem Leben. Und diese ist jetzt für immer fort, während Zoey nie wieder einen einzigen sonnigen Tag erleben wird. Glaubt sie. Obwohl sie das mittlerweile akzeptiert hat, immerhin hatte sie fünf Jahre Zeit dafür an diesen Punkt zu gelangen, sehnt sie sich nach Sonne. Sie sehnt sich nach Spaß, nach Freude, nach Hoffnung, nach unbeschwertem Lachen, nach Licht, nach Leben. Diese Sehnsucht ist so groß wie das Missen ihrer Mutter. Und ihre Mutter vermisst sie unendlich. Auch noch nach fünf Jahren, die sich für sie anfühlen wie eine halbe Ewigkeit. Sie weiß, dass sie dankbar dafür sein sollte, dass sie ihren Vater und ihre Schwester hat, und das ist sie auch, nur kann sie es nicht zeigen. Sie ist egoistisch geworden. Ihr ist alles egal geworden. Zoey will nur ihre Ruhe, will keinen Kontakt zu irgendwem haben, am liebsten bis zu ihrem Tod das Haus nie wieder verlassen. Es ist anstrengend jeden Tag aufzustehen, in die Schule zu gehen, von anderen Menschen umgeben zu sein, sich zu bewegen, im Unterricht zu sitzen. Sie würde viel lieber in ihrem Bett liegen bleiben, schlafen und ihre Bücher lesen. Bis zum Ende ihres nicht mehr wirklich vorhandenen Lebens. Sie hat schon öfter darüber nachgedacht, es zu beenden, aber so herzlos ist sie dann doch nicht. Das kann sie ihrem Vater und ihrer Schwester nicht antun. Eine Zeitlang dachte sie zwar, es würde nicht viel ändern, weil sie kaum miteinander Zeit verbringen, aber sie weiß, wie schmerzhaft es ist, einen geliebten Menschen zu verlieren. Ihr Vater und ihre Schwester lieben sie, auch wenn sie so ist, wie sie ist. Und jetzt ist auch noch ihre Grandma gegangen. Aber Zoey hat im Gegensatz zu ihrer Schwester nicht geweint. Sie fühlt nie etwas anderes als Trauer, also war es für sie kein neues Gefühl. Ihre Tränen sind schon längst versiegt. Sie trauert still und innerlich, zeigt niemandem, was sie fühlt, zeigt sich als gefühllos, obwohl sie das ganz und gar nicht ist. In ihr wütet ein Sturm aus Trauer, Wut, Verzweiflung, Sehnsucht, der niemals nach außen ausbricht. Zoey ist aber so schlau, dass sie weiß, dass der Sturm irgendwann ausbrechen muss, weil er dann so unberechnbar ist, dass sie ihn nicht mehr zurückhalten kann. Den Ausbruch wird sie so lange hinauszögern, bis sie nicht mehr kann, bis sie vollkommen zerstört ist. Zoey glaubt nicht mehr, dass sie irgendwann wieder heil ist, dass sie jemals repariert werden kann. Ihre Diagnose, die sie selbst aufgestellt hat, ist Totalschaden. Also ist es relativ aussichtslos, dass ihre Funktionen irgendwann wieder zurückkehren. Genauso aussichtslos ist, dass die Sonne in ihrer Welt irgendwann wieder aufgeht.

𝙰𝚕𝚜 𝚍𝚒𝚎 𝚂𝚘𝚗𝚗𝚎 𝚠𝚒𝚎𝚍𝚎𝚛 𝚊𝚞𝚏𝚐𝚒𝚗𝚐Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt