KAPITEL 9

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Montag, 27. September

Am Wochenende hat Zoey die meiste Zeit am Strand verbracht. Eigentlich ist sie nur zum Schlafen und Essen nach Hause gegangen. Wobei sie mittags am Strand gegessen hat.

Niemand hat sie am Wochenende gestört. Sie hat die gesamte Zeit Ruhe gehabt. Ihre Bucht am Strand kennt nämlich kaum jemand. So war sie mit sich selbst, ihren Büchern und der Musik allein. Diese Zeit hat sie genossen. Keine Schule, keine Lehrer und Lehrerinnen, kein Blake, keine Ava – nur sie. Das Einzige, was sie gestört hat, waren ihr Gedanken. Ava war zwar nicht in Person da, aber in ihren Gedanken war sie sehr präsent. Genauso wie Tyler. Sie hat seinen Blick, als Blake Ava beleidigt hat, immer noch nicht vergessen.

Ava würde sie am liebsten aus ihren Gedanken verbannen, alle Erinnerungen mit ihr lösche, denn mit Ava hat sie angefangen, sich zu verändern. Und diese Macht, die Ava über sie hat, macht ihr Angst. Ihre verwirrenden Gefühle Ava gegenüber machen ihre Angst.

Heute ignoriert sie in der Schule jeden. Wie immer. Der Unterricht war langweilig und es gab keine erwähnenswerten Zwischenfälle mit Blake, Tyler oder Ava, worüber sie sehr froh ist.

Auf dem Parkplatz der Schule sieht sie schon das Auto ihres Vaters, der sie heute abholt, um sie zu Ms. Stone, ihrer Psychotherapeutin, zu fahren. Auf dem Weg dorthin beschließt Zoey, dass sie heute ehrlich mit Ms. Stone reden sollte. Ihr Kopf ist voller Gedanken, die sie loswerden muss. Sie denkt wie schon am Wochenende nur an Ava und Tyler. So kann sie im selben Zuge auch von Blake erzählen. Und vielleicht von ihrer Mutter.

Als sie ankommen, verabschiedet Zoey sich von ihrem Vater, der dieses Mal vor der Praxis auf sie warten wird. Sie klingelt an und Ms. Stone öffnet ihr strahlend die Tür.

„Hallo, Zoey, komm herein."

Zoey kommt der Aufforderung nach und folgt ihrer Therapeutin ins Sprechzimmer.

Sie setzen sich beide und dann beginnt Ms. Stone das Gespräch.

„Wie geht es dir? Hast du ein Anliegen für die heutige Stunde?", fragt sie und schnappt sich einen Zettel und einen Stift für Notizen.

Dies fragt sie zu Beginn jeder Stunde. Und bisher hat Zoey immer gesagt, dass es ihr gut geht (obwohl dem nicht so ist) und dass sie kein Anliegen hat, denn sie wollte so wenig wie möglich mit Ms. Stone sprechen. Aber heute hat sie ein Anliegen, was sie besprechen möchte und antwortet ehrlich.

„Mir geht es nicht gut. Und deswegen möchte ich auch gerne mit Ihnen sprechen."

Falls Ms. Stone über ihre Ehrlichkeit erstaunt ist, lässt sie es sich nicht anmerken, worüber Zoey froh ist.

„Erzähle gerne mehr und dann schaue ich, wie ich dir helfen kann."

Also beginnt Zoey zu erzählen: „Ich habe dies noch nie jemandem gesagt. Ich bin lesbisch. Es gibt in der Schule ein Mädchen – Ava – und sie ruft verwirrende Gefühle in mir hervor. Ich fühle mich in ihrer Nähe geborgen und erzähle ihr von meiner verstorbenen Mum, außerdem würde ich am liebsten meine gesamte Zeit mit ihr verbringen. Sie verändert mich. Ich habe wieder das Bedürfnis nach Gesellschaft und das macht mir gehörig Angst. Das kenn ich nicht von mir." Während sie redet, kann Zoey nicht anders, als zu lächeln. So wie immer bei dem Gedanken an Ava.

„Und wieso macht dir das Angst?"

„Weil...weil ich...keine Ahnung. Vielleicht weil die Zoey von früher immer mehr zurückkehrt."

„Was bedeutet von früher?", fragt Ms. Stone.

„Die Zoey, die ich war, bevor meine Mutter gestorben ist." Nun lächelt sie nicht mehr. Eine Träne schleicht sich über ihre Wange, weil sie wieder diesen stechenden Schmerz in ihrer Brust spürt. Ihre Mutter lebt nicht mehr. Und sie wird nie wieder zu ihr zurückkommen.

Ms. Stone bietet ihr ein Taschentuch an, welches Zoey dankend annimmt.

„Und was wäre so schlimm daran, wenn diese Zoey wieder zurückkehrt?"

Zoey überlegt. „Ich weiß es nicht."

„Ich wünschte sie wäre noch hier", sagt Zoey nach kurzem Schweigen.

„Wer?"

„Mum."

„Das kann ich verstehen. Du hast einen schweren Verlust erlitten, unter dem du immer noch sehr leidest. Du trauerst noch, Zoey. Und es ist vollkommen normal, dass du diesen Wunsch hegst", sagt Ms. Stone.

Zoey sagt nichts dazu, sie fängt nur bitterlich an zu weinen, weswegen Ms. Stone ihr nochmal ein Taschentuch hinhält.

„Schon lange habe ich nicht mehr so viel geweint", lacht Zoey verlegen.

„Du brauchst dich für deine Gefühle nicht schämen."

Zoey nickt.

„Es gibt noch etwas, wovon ich erzählen möchte. Ava, das Mädchen, wovon ich vorhin gesprochen habe, wird in der Schule gemobbt. Am schlimmsten von Blake. Er macht sie verbal fertig und die gesamte Schule unterstützt das, alle machen mit und lachen darüber, keiner verteidigt Ava. Nur ich. Blake ist ein Arsch – Entschuldigung für diese Wortwahl, aber es stimmt – und er fragt mich immer nach einem Date und sagt anzügliche Sätze zu mir. Er geht mir so auf den Keks und ich wünschte, er würde aufhören, Ava zu mobben. Denn sie ist wirklich ein tolles Mädchen und sie hat das nicht verdient.

Was mir vor kurzem aber aufgefallen ist, war Tyler, der beste Freund von Blake. Er hat ziemlich verletzt geschaut, als Blake wieder Ava aufgrund ihrer Homosexualität beleidigt hat. Und sein Blick will mir einfach nicht mehr aus dem Kopf gehen."

„Hast du schonmal überlegt Tyler darauf anzusprechen?"

Zoey schüttelt den Kopf. „Ich wüsste nicht wie und wo. In der Schule geht das auf jeden Fall nicht. Er hängt ja immer mit Blake zusammen."

„Wenn du das nicht willst, musst du dies nicht tun, aber wenn es dich so sehr beschäftigt, wäre es vielleicht gut, wenn du mit ihm sprichst."

„Da haben Sie sicher recht.

„Möchtest du sonst noch über etwas reden?", fragt Ms. Stone.

„Nein, ich habe kein Anliegen mehr."

In den letzten 20 Minuten stellt Ms. Stone noch einige Fragen, auf die Zoey ehrlich antwortet.

Sie fühl sich nach der Therapiestunde erleichtert. Es war die richtige Entscheidung, mit Ms. Stone zu sprechen. Und sie nimmt sich fest vor, auch mit Tyler zu reden. Sie muss sich nur noch überlegen wann, wie und wo.

Sie steigt wieder zu ihrem Vater ins Auto.

„Und, wie war das Gespräch?", fragt er.

„Gut", antwortet Zoey und dann fährt ihr Vater los.

„Hättest du Lust spazieren zu gehen?", rutscht es plötzlich aus Zoey raus. Sie weiß selbst nicht, woher diese Idee kommt. Aber sie wünscht sich, noch mehr Zeit mit ihm zu verbringen und den Tag am Strand ausklingen zu lassen.

„Sehr gerne", strahlt ihr Vater.

„Am Strand?", fragt Zoey.

Ihr Vater nickt und steuert den Parkplatz am Strand an.

Sie gehen schweigend nebeneinander spazieren. Für ein langes Gespräch ist Zoey noch nicht bereit und das scheint ihr Vater zu spüren, denn auch er sagt kein Wort.

Zoey lässt ihre Gedanken schweifen. Ihre Mutter wäre sicher stolz auf sie. Sie öffnet sich nach und nach immer mehr. Und das nur dank Ava. Ihre Mutter hätte sie geliebt, das weiß Zoey. Und würde ihre Mutter noch leben, wäre sie der erste Mensch gewesen, dem Zoey von Ava erzählt hätte.

Und Ms. Stone hat verdammt recht. Ihre Mutter hätte auf keinen Fall gewollt, dass sie sich so sehr zurückzieht und sich vor den Menschen, die ihr wichtig sind und denen sie wichtig ist, verschließt. Dies hat Ms. Stone am Ende zu ihr gesagt.

Aber Zoey weiß, dass sie nicht von heute auf morgen die alte Zoey sein kann. Wahrscheinlich wird sie sie nie wieder sein. Lieber möchte sie jemand sein, der sie noch nie war.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Jun 27 ⏰

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