Prolog

23 3 0
                                    

„Das Mädchen war in den Wald geschickt worden, um Pilze und Kräuter zu sammeln. Dass das diesmal keine gute Idee war, konnte sie zu diesem Zeitpunkt natürlich nicht wissen. Vielleicht lag es daran, dass sie eine Gabe hatte, die nur Kinder besaßen. Und auch von denen nur sehr wenige. Das Mädchen hatte die Gabe, die Welt bunter zu sehen, als andere Menschen. Vielleicht bunter, als sie wirklich war. Das konnte bei jemandem, wie ihr, der immer in Sicherheit gewesen war, eine gute Gabe sein, denn sie kannte das Böse nicht und war auch nur selten traurig. Sie glaubte an Gerechtigkeit und das Gute im Menschen und nichts konnte sie auf lange Zeit trüben. Sie vertraute Jedem auf Anhieb. Doch wenn sich jemand, der eine solche Gabe besaß, in Gefahr befand, konnte diese zu einem Fluch werden. So war es auch bei diesem Kind, welches an diesem sonnigen Morgen den Tod fand.

Aber von Anfang an: Fröhlich pfeifend ging das Mädchen des Weges lang, welcher tiefer in den Wald und schließlich zu einer Lichtung führte. Sie konnte den Weg mit geschlossenen Augen finden, so gut kannte sie ihn. Auf der Lichtung wuchsen viele Blumen, Kräuter und Pilze. Das Kind kannte sie alle. Es wusste welche man essen konnte, und welche man lieber nicht anrührte. Es besaß einen alten geflochtenenKorb, ausgelegt mit einem fein bestickten Tuch. Sie sammelte bis ihr Korb voll war, und ging anschließend wie jeden Tag ins Dorf um die Hälfte ihrer Pilze zu verkaufen. Die Leute im Dorf kauften gerne Kräuter und Pilze bei ihr, denn das Kind hatte keinen Vater mehr und ihre Mutter besaß oftmals nicht so viel Geld, wie sie eigentlich bräuchte. Ihre Mutter arbeitete hart, damit ihre Tochter, welche sie über alles liebte, nicht hungern musste. Und doch reichte es manchmal nicht. Dann ging die Mutter mit der Tochter ins Dorf, um etwas von dem wenigen Schmuck zu verkaufen, den ihr Ehemann ihr damals geschenkt hatte. Nur ein Schmuckstück verkaufte sie niemals. Die Halskette ihrer Tochter. An der Halskette war ein altes Medaillon befestigt, welches seit vielen Generationen von der Mutter zur Tochter weitervererbt worden war.

Doch ich möchte mich nicht weiter mit dem Medaillon beschäftigen. Das Mädchen war noch auf der Lichtung, als es angegriffen wurde. Keiner weiß, was das für ein Wesen war, welches sie angegriffen hatte. Es muss ein Monster gewesen sein, denn kein Wesen, das ein Herz besitzt, hätte diesem kleinen Mädchen auch nur ein Haar gekrümmt. Ein Monster, ganz klar, aber keiner weiß, was für eines, denn keiner war in diesem Moment bei ihr gewesen. Sie ist alleine gestorben. So wie sie alle kannten, könnte man meinen sie hätte keine Furcht vor dem Wesen empfunden bis es zu spät war. Andere wären vermutlich weggelaufen doch sie ging auf alle zu und redete mit ihnen. Mitunter ein Grund warum sie so vielen Menschen am Herzen lag, doch an diesem Tag sollte es ihr zum Verhängnis werden. Niemand hatte sie also gesehen, aber sehr wohl gehört. Ihr sorgenloses Pfeifen, bei dem selbst die Vögel aufhörten zu singen, um ihr zuzuhören, verstummte auf einmal und wich einem erschrockenem Schrei. Und dann war alles still. Selbst der Wind hörte auf zu flüstern. Keiner im Dorf bewegte sich. Sie waren vor Angst erstarrt. Nicht vor Angst um sich selbst, sondern vor Angst um das Mädchen. Dann kam Bewegung in den Dorfältesten. Er war dem Mädchen sehr nahe gewesen, hatte ihr oft Geschichten aus seiner Jugend erzählt, welchen sie immer gebannt zu lauschen liebte. Er schnappte sich seinen Gehstock und humpelte, so schnell, wie er noch nie gelaufen war, selbst in jungen Jahren nicht, Richtung Wald. Ihm folgten weitere. Etwa zwei Dutzen weitere Männer und Frauen, denn sie alle waren sehr besorgt um das Mädchen, welches sie alle so sehr liebten. Ihre Mutter war zu der Zeit weit draußen auf den Feldern und erfuhr von dem furchtbar schlimmen Geschehen als Letzte. Als das Dorf angekommen war, traf sie alle der Schlag. Auf dem Waldboden war Blut. Viel Blut. Von dem kleinen Kind war nichts zu sehen. Doch dort, wo es eigentlich liegen sollte, wuchs ein junger Kirschbaum. Er hatte kleine rosige Blüten, welche sich schon zu entfalten begannen und war bereits jetzt schon schöner als jeder andere in dieser Gegend. Der alte Mann kniete nieder und strich mit seinen alten, rauen Händen sanft über die Rinde. 'Meine Kleine', flüsterte der Mann mit erstickter Stimme. Eine stumme Träne lief über seine Wange. Dann humpelte er ohne ein weiteres Wort in Richtung Dorf zurück. Jeder im Dorf weinte um sie, denn es war keiner mehr da, der ihnen half, die Welt in so strahlenden Farben zu sehen."

Calix lehnte im Türrahmen, und hörte der Geschichte zu, die seine Großmutter seiner kleinen Schwester erzählte. Er fragte sich, ob die Geschichte echt war, denn Lucinda erzählte gerne Geschichten aus ihrem Leben und was sie erlebt hatte. Es waren auch traurige dabei. Doch Lucinda liebte es auch, sich selber Geschichten auszudenken und ihren Enkeln zu erzählen. Er sah zu wie seine Großmutter seiner Schwester einen Gute Nacht-Kuss gab, aus dem Zimmer schlich und dann leise die Tür hinter sich schloss.

„War die Geschichte echt?", fragte Calix.

Lucinda antwortete nicht, stattdessen sagte sie: „Du erinnerst mich an sie". Sie schien in Gedanken versunken zu sein.

„Du kanntest das Mädchen?"

Lucinda lächelte traurig. „Pass auf dich auf, mein mojo", meinte sie noch und verschwand ohne ein weiteres Wort. Zurück blieb ein Junge, der über das traurige Schicksal eines kleinen Mädchens nachdachte, dessen so wundervolle Gabe über Nacht zu einem Fluch geworden war.

Und dann dachte er, nun noch trauriger, an den großen Kirschbaum auf der Lichtung hinter dem Dorf, wo ihm bisher immer gleich fröhlicher zumute gewesen war, sobald er ihn nur sah.

CyanaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt